Bundeskanzler Schallenberg beim Europäischen Rat in Brüssel: Nicht vorschnell in Energiepreisgestaltung eingreifen

Covid-19-Koordinierung, Außengrenzschutz und Migration als weitere Themen – Bundeskanzler Schallenberg zur Situation in Polen: "Die Rechtsstaatlichkeit, die Grundwerte der Europäischen Union sind einfach nicht verhandelbar"

Bundeskanzler Alexander Schallenberg in Brüssel

Bundeskanzler Alexander Schallenberg nahm am 21. und 22. Oktober 2021 in Brüssel an seinem ersten EU-Gipfel seit seiner Angelobung als österreichischer Regierungschef teil. "Ich freue mich, meine Amtskolleginnen und Amtskollegen beim Europäischen Rat erstmals persönlich zu treffen", so Schallenberg zu Beginn der Tagung. Auf der Tagesordnung standen unter anderem Diskussionen über die Energieversorgung vor dem Hintergrund steigender Energiepreise in der EU, die Covid-19-Koordinierung sowie der zunehmende Migrationsdruck auf Europa und der Schutz der EU-Außengrenzen. Zudem berieten die 27 EU-Staats- und -Regierungsspitzen über die Situation in Polen.

Begleitet wurde Bundeskanzler Alexander Schallenberg von Europaministerin Karoline Edtstadler, die in Brüssel unter anderem mit der Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Věra Jourová, und Miroslav Lajčák, dem EU-Sonderbeauftragten für den Dialog zwischen Belgrad und Pristina und andere regionale Fragen im Westbalkan, sowie dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte zusammentraf. Im Fokus der Gespräche standen aktuelle Entwicklungen im Bereich der Rechtstaatlichkeit und der EU-Zukunftskonferenz sowie die europäische Perspektive für die Westbalkan-Staaten. "Wir stehen vor riesigen Herausforderungen die wir nur gemeinsam lösen können: Einhaltung der Rechtstaatlichkeit, Bekämpfung des Klimawandels oder die digitale Transformation mit all ihren Chancen und Schwierigkeiten", so die Europaministerin.

Bundesministerin Karoline Edtstadler, Bundeskanzler Alexander Schallenberg, Ministerpräsident der Niederlande Mark Rutte

Steigende Energiepreise in Europa: "Nicht übereilt in die Preisgestaltung eingreifen"

Der Europäische Rat beriet über Maßnahmen, welche auf nationaler und europäischer Ebene ergriffen werden könnten, um den Auswirkungen des aktuellen Anstiegs der Energiepreise entgegenzuwirken. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte im Vorfeld des Europäischen Rates betont: "Europa ist derzeit zu stark auf Erdgas angewiesen, es ist zu sehr abhängig von Gasimporten. Wir importieren 90 Prozent unseres Bedarfs. Und das macht uns verwundbar."

"Wir müssen aufpassen, dass Energie nicht zu einem Luxusgut wird und auch, dass die Lichter in Europa nicht ausgehen. Aber gleichzeitig müssen wir einen kühlen Kopf bewahren und nicht vorschnell in die Energiepreisgestaltung und die Energiemärkte eingreifen", betonte Bundeskanzler Alexander Schallenberg. Man habe in Europa bereits vor einigen Jahren eine ähnliche Situation gehabt, als die Ölpreise angestiegen seien. Auch damals habe man sich auf europäischer Ebene dazu entschlossen, nicht in die Marktpreise einzugreifen. Bereits am ersten Gipfel-Tag wurden die von betroffenen Staaten geforderten Markteingriffe abgelehnt. "Es wird festgestellt, dass die EU zu Energiepreisen beiträgt, die leistbar sind, aber gleichzeitig diese letztlich auch nicht sicherstellen kann."

Positive Bilanz nach Energiedebatte

Der österreichische Regierungschef betonte, dass der Vorschlag der Europäischen Kommission einer "Toolbox" sinnvoll sei, welche aus möglichen Maßnahmen wie Steuersenkungen, finanzieller Unterstützung für ärmere Haushalte und Investitionen in erneuerbare Energien besteht. Nach der zu erwarteten langen Debatte konnte der Kanzler positiv bilanzieren: "Es kam zu keiner Vermischung der aktuellen Situation mit dem Umstieg zu den erneuerbaren Energien, dem "Green Deal" oder dem Programm "Fit for 55"." Insgesamt stünde Österreich dank weitgehend gefüllter Gaslager gut da: "Wir haben mit den meisten Gasprovidern langfristige Verträge. Ganz wesentlich ist auch, dass wir schon frühzeitig auf die erneuerbaren Energien gesetzt haben. So sind wir bei fossilen Brennstoffen weniger exponiert."

Und: "Atomenergie darf in der Politik jetzt nicht durch die Hintertür salonfähig werden. Sie ist nicht als sichere und nachhaltige Energieform zu betrachten. Da haben wir eine klare Haltung und sind in dieser Frage auf europäischer Ebene auch nicht alleine", verwies der Bundeskanzler auf die ähnliche Position Luxemburgs und bedankte sich diesbezüglich bei Premierminister Xavier Bettel für die "gute Zusammenarbeit". Das Thema werde in den nächsten Monaten vermehrt diskutiert werden, sagte Schallenberg mit Blick auf den französischen EU-Ratsvorsitz im ersten Halbjahr 2022. Frankreich und andere EU-Staaten hatten zuletzt gefordert, dass Atomkraft als "grüne" Energie klassifiziert werde. Beim Europäischen Rat sei die Atomenergie aber nicht einmal indirekt angesprochen worden, trotz der Versuche, diese mit Verweis auf die Taxonomie-Verordnung der EU ins Spiel zu bringen. Österreich sei es zusammen mit Luxemburg gelungen, dies zu verhindern.

Die Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates halten fest, dass die Kommission ersucht wird, mit Unterstützung der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) die Funktionsweise der Gas- und Elektrizitätsmärkte sowie des EU-EHS-Markts zu untersuchen, um bewerten zu können, ob bestimmte Handelsverhaltensweisen weitere Regulierungsmaßnahmen erfordern. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen sollen bestmöglich unterstützt werden, wobei gemäß Schlussfolgerungen "den vielfältigen und spezifischen Gegebenheiten der Mitgliedstaaten" Rechnung getragen werden müsse. Die Arbeiten sollen bei der außerordentlichen Tagung des Rates Energie am 26. Oktober 2021 vorangebracht werden. Der Europäische Rat wird das Thema im Dezember 2021 erneut aufgreifen.

Bundeskanzler Alexander Schallenberg (r.), Präsident des Europäischen Rats Charles Michel (m.l), Slowakischen Premierminister Eduard Heger (m.r.), Luxenburger Premierminister Xavier Bettel (l.)

Covid-19-Koordinierung: Bemühungen zur Erhöhung der Impfquoten müssen fortgesetzt werden – Lage in einzelnen Mitgliedstaaten "nach wie vor sehr ernst"

Auf der Tagesordnung des Europäischen Rates stand zudem eine Bestandsaufnahme der epidemiologischen Lage und Impfsituation in der EU. Es gehe vor allem darum, die Impfkampagne voranzutreiben, so Bundeskanzler Schallenberg. Zwischen den EU-Mitgliedstaaten herrschten bei der Impfquote große Unterschiede, wenn man einerseits auf Dänemark mit einer hohen Impfquote und andererseits auf Slowenien mit einem überlasteten Gesundheitssystem blicke, meinte Schallenberg. Die Schlussfolgerungen halten fest, dass aufgrund der Impfkampagnen "erhebliche Fortschritte" bei der Covid-19-Bekämpfung erzielt worden seien, die Lage in einigen Mitgliedstaaten jedoch "nach wie vor sehr ernst" sei. Daher müssten die "Anstrengungen zur Überwindung der Impfskepsis intensiviert" werden, etwa auch durch Bekämpfung von Desinformation, speziell auf Social Media. Um künftig besser vorbereitet zu sein, müssten "die Resilienz gegenüber Krisen und die horizontale Krisenvorsorge der EU gestärkt" werden. Mit Stand 13. Oktober 2021 waren nach Angaben der Europäischen Kommission – basierend auf Daten von Impfstoffherstellern und des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (European Centre for Disease Prevention and Control, kurz ECDC) – 75,7 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der EU vollständig geimpft.

Die Staats- und Regierungsspitzen führten einen Gedankenaustausch über internationale Solidarität und die Notwendigkeit, den "Zugang zu Impfstoffen für alle zu gewährleisten". Wie die Europäische Kommission am 18. Oktober 2021 bekannt gegeben hatte, ist die EU der größte Exporteur von Covid-19-Impfstoffen und hat in den vergangenen 10 Monaten mehr als eine Milliarde Impfstoffdosen exportiert. Bundeskanzler Schallenberg hob hervor: "Österreich war mit der Lieferung an die Westbalkan-Staaten einer der ersten Staaten, der hier tätig geworden ist."

Auch das digitale Covid-19-Zertifikat erweist sich als erfolgreiches Tool, das sicheres Reisen unterstützt: Bis dato wurden über 591 Millionen digitale Covid-19-Zertifikate seitens der EU-Mitgliedstaaten ausgestellt. Am Covid-Zertifikatssystem sind (mit Stand 18. Oktober 2021) 43 Länder beteiligt, darunter 16 Nicht-EU-Staaten; weitere sollen folgen. Der Europäische Rat forderte in den Schlussfolgerungen eine fortgesetzte Koordinierung zur Erleichterung der Freizügigkeit in der EU und der Reisen in die EU. Er ermutigte die Kommission, ihre Arbeit mit Drittländern in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung von Zertifikaten zu beschleunigen.

Bundeskanzler Schallenberg zu Polen: "Binnenmarkt funktioniert bei Vorrang von Gemeinschaftsrecht"

Nicht formal auf der Tagesordnung, dennoch Thema beim Europäischen Rat war ein Urteilspruch des polnischen Verfassungsgerichts von Anfang Oktober, dem zufolge Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien und das den Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht infrage stellt. Dies stieß auf scharfen Widerspruch der Europäischen Kommission. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte am 19. Oktober 2021 vor dem Plenum des Europäischen Parlaments betont, dass die Rechtsstaatlichkeit das sei, was die Union verbinde: "Sie ist das Fundament unserer Einheit. Sie ist für den Schutz der Werte, auf die sich unsere Union gründet, unabdingbar: Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Achtung der Menschenrechte." Die Europäische Kommission werde handeln, so von der Leyen, und dabei alle Optionen prüfen.

Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, Bundeskanzler Alexander Schallenberg

"Die Rechtsstaatlichkeit, die Grundwerte der Europäischen Union sind einfach nicht verhandelbar. Es kann nicht sein, dass sich ein Staat einfach ausklinkt. Das ist für mich die Grundtonalität in der Debatte. Der Binnenmarkt kann nicht funktionieren, ohne dass das Gemeinschaftsrecht Vorrang hat. Polen muss die finanzielle Drohkulisse sehr ernst nehmen", so Bundeskanzler Schallenberg. "Gleichzeitig muss man die Diskussion auf Augenhöhe und lösungsorientiert führen. Die weitere Diskussion darüber darf nicht nur auf dem Rechtsweg geführt werden", betonte der Bundeskanzler. Gerade Österreich als großer Profiteur der Osterweiterung habe ein Interesse daran, dass das Zusammenwachsen mit jenen Staaten, die 2004 zur EU hinzugekommen sind, funktioniere. Aber es gebe keine Werte à la carte, man müsse sich zu diesen bekennen, so Schallenberg. Bereits bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel am 14. Oktober 2021 hatte er Unterstützung für das Vorgehen der Europäischen Kommission gegenüber Polen gezeigt und sich gleichwohl für eine Fortführung des Dialogs ausgesprochen.

Migration: Solidarität beim Schutz der EU-Außengrenzen gefordert

Der zweite Tag des Europäischen Rates stand im Zeichen einer Bewertung der Umsetzung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Juni 2021. Gegenstand der Beratungen war die externe Dimension und damit der steigende Migrationsdruck auf Europa. Viele Migrantinnen und Migranten gelangen aktuell auf der Belarus-Route via Polen in die EU. In den Schlussfolgerungen heißt es diesbezüglich: "Der Europäische Rat wird Versuche von Drittländern, Migranten für politische Zwecke zu instrumentalisieren, keinesfalls hinnehmen. Er verurteilt jegliche hybride Angriffe an den Grenzen der EU und wird entsprechend reagieren." Was Belarus anbelangt, seien Verantwortliche zu sanktionieren, betonte Bundeskanzler Schallenberg, man müsse aber den Dialog gerade mit der Zivilgesellschaft aufrechterhalten. Innerhalb Europas solle man nicht nur mit der Sprache der Sanktionen reden.

"Ich finde es gut, dass wir bei diesem Europäischen Rat einen Fokus auf den Außengrenzschutz und die Außendimension legen, nämlich auf die Herkunfts- und Transitländer. Es wurden 8 Aktionspunkte vorgelegt, die jetzt schnell umgesetzt werden sollen. Wir müssen auch bei der Rückübernahme wieder einen Gang zulegen. In diesem Zusammenhang gehören wir sicherlich zurecht zu den forderndsten Staaten", erläuterte Schallenberg. Österreich habe 2021 pro Kopf nach Zypern die größte Zahl an Asylanträgen. Er trete auch stark für die Solidarität beim Außengrenzschutz ein, etwa was die Pläne Litauens in Zusammenhang mit der Situation in Belarus betrifft: "Wenn ein Land Frontstaat des Schengen-Bereichs ist und an seiner Grenze uns alle schützt, soll er mit Solidarität der anderen Schengen-Staaten rechnen können, auch durch finanzielle Unterstützung im Rahmen der EU. Von den Außenfonds werden 8 Milliarden Euro an Maßnahmen entlang der Außengrenzen zur Verfügung gestellt."

Weitere Themen: Digitaler Wandel, globaler Handel und Außenbeziehungen – "Ehrgeizige globale Reaktion auf den Klimawandel" im Vorfeld der COP 26 gefordert

Die EU-Staats- und -Regierungsspitzen führten zudem eine strategische Aussprache über die Handelspolitik der EU und berieten über Fortschritte bei der digitalen Agenda (inklusive wichtiger Gesetzgebungsdossiers, wie beispielsweise des Gesetzes über digitale Dienste, "Digital Services Act", und des Gesetzes über digitale Märkte, "Digital Markets Act"). Der Europäische Rat begrüßte die von der Kommission am 5. Oktober 2021 angenommene Strategie der EU zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens.

Weiters auf der Agenda stand der Status Quo der Vorbereitungen von internationalen Tagungen wie des ASEM-Gipfels (Asia-Europe Meeting; 25. bis 26. November 2021 im virtuellen Format), des Gipfeltreffens der Östlichen Partnerschaft (15. Dezember 2021), der 15. Vertragsstaatenkonferenz (COP 15) zur biologischen Vielfalt (erster Teil hat virtuell stattgefunden; zweiter Teil: 25. April bis 8. Mai 2022 in Kunming) sowie der 26. Vertragsstaatenkonferenz (COP 26) zum Klimawandel (31. Oktober bis 12. November 2021 in Glasgow), in deren Vorfeld der Europäische Rat eine "ehrgeizige globale Reaktion auf den Klimawandel" forderte.

Das Ziel der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius müsse "unbedingt erreichbar" bleiben, heißt es in den Schlussfolgerungen. Der Europäische Rat ruft die Vertragsparteien auf, "ehrgeizige nationale Ziele und Strategien" vorzulegen und umzusetzen, damit bis zum Jahr 2050 Klimaneutralität erreicht werden könne. In diesem Zusammenhang fordert der Europäische Rat laut Schlussfolgerungen andere Industrieländer dazu auf, ihren Beitrag zur Klimaschutzfinanzierung (kollektives Ziel: jährlich 100 Milliarden US-Dollar bis einschließlich 2025) "dringend zu erhöhen", und erinnert an die Zusage der EU und ihrer Mitgliedstaaten, die Klimaschutzfinanzierung weiter aufzustocken.

Schallenbergs Premiere als Bundeskanzler beim Europäischen Rat

Am Rande der Tagung des Europäischen Rates traf der Bundeskanzler in Brüssel den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Kommissar Johannes Hahn und den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zu bilateralen Gesprächen. In Vorausschau auf die Zusammenarbeit während der französischen EU-Ratspräsidentschaft sah der Bundeskanzler zahlreiche gemeinsame Interessen und Projekte "für unser Europa".

Präsident von Frankreich Emmanuel Macron, Bundeskanzler Alexander Schallenberg

Im Vorfeld der Tagung des Europäischen Rates hatte der Bundeskanzler am 14. Oktober 2021 Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel besucht und mehrere bilaterale Telefongespräche mit Amtskolleginnen und Amtskollegen, darunter der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte, geführt. Am 19. Oktober 2021 hatte sich Schallenberg in einer Videokonferenz mit Ratspräsident Charles Michel, dem ungarischen Premier Viktor Orbán, der finnischen Premierministerin Sanna Marin und dem bulgarischen Präsidenten Rumen Radev besprochen.

Bundeskanzler Alexander Schallenberg

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