Strategische Vorausschau 2022: 10 Handlungsfelder zur stärkeren Verbindung des "grünen" und digitalen Wandels in der EU

3. jährlicher Bericht über die strategische Vorausschau veröffentlicht – Vizepräsident Šefčovič: "Potenzial der Digitalisierung nutzen, um bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen" – Fortschritte in 10 Handlungsfeldern sollen zu mehr Widerstandsfähigkeit und weniger Abhängigkeit der EU in zentralen Bereichen führen

COP26 in Glasgow

Die Europäische Kommission hat am 29. Juni 2022 den 3. jährlichen Bericht über die strategische Vorausschau ("Strategic Foresight Report") angenommen. Darin schlägt die Kommission unter anderem eine stärkere Verknüpfung ("Twinning") der "grünen" und digitalen Transformation innerhalb der EU vor – auch, um auf den geänderten geopolitischen Kontext in Folge des Krieges in der Ukraine zu reagieren. Der Bericht (Titel: "Twinning the green and digital transition in the new geopolitical context") skizziert 10 Handlungsschwerpunkte, in denen größtmögliche Synergien und Kohärenz erzielt werden sollten, um Klimaschutz und Digitalisierung besser miteinander zu verzahnen. Ziel ist zudem die Stärkung der sektorübergreifenden Widerstandsfähigkeit (Resilienz) und der offenen strategischen Autonomie der EU, um für die Herausforderungen auf globaler Ebene im Zeitraum bis 2050 gerüstet zu sein. Der Bericht bietet somit eine langfristige Perspektive auf die Arbeit der Europäischen Kommission.

Vizepräsident Šefčovič: "Zusammenspiel zwischen 'grünem' und digitalem Wandel ist der Weg in die Zukunft"

Vizepräsident Maroš Šefčovič, in der Europäischen Kommission für interinstitutionelle Beziehungen und Vorausschau zuständig, unterstrich: "Um bis zum Jahr 2050 Klimaneutralität zu erreichen, müssen wir das Potenzial der Digitalisierung nutzen und gleichzeitig den digitalen Wandel nachhaltig gestalten. Die aktuelle strategische Vorausschau befasst sich daher eingehend damit, wie wir die beiden Ziele, die aufgrund der derzeitigen geopolitischen Kräfteverlagerungen eine erhebliche Sicherheitsdimension haben, am besten miteinander in Einklang bringen können. Wir müssen das Zusammenspiel zwischen 'grünem' und digitalem Wandel verstehen und gleichzeitig eine offene strategische Autonomie anstreben. Dies ist der Weg in die Zukunft."

10 Handlungsfelder für eine gestärkte, langfristige Verknüpfung von Nachhaltigkeit und Digitalisierung

Die strategische Vorausschau 2022 zeigt 10 zentrale Bereiche auf, die aus Sicht der Kommission dazu geeignet sind, die Verzahnung des "grünen" und digitalen Wandels auf politischer Ebene zu stärken, dessen Chancen zu nützen und potenzielle Risiken zu verringern. Die 10 Handlungsfelder werden von der Europäischen Kommission als zentral erachtet, um die klimapolitischen und digitalen Ziele der EU gleichzeitig zu erreichen:

  1. Stärkung der Resilienz und der offenen strategischen Autonomie: Dies soll vor allem in Sektoren, die für den zweifachen Wandel von entscheidender Bedeutung sind, erfolgen, etwa durch die Arbeit der EU-Beobachtungsstelle für kritische Technologien beziehungsweise der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit.
  2. Stärkung der "grünen" und digitalen Diplomatie: Dabei soll das Gewicht, das die EU im Bereich der Regulierung und Standardisierung hat, parallel zur Förderung der Werte der EU und zum Ausbau von Partnerschaften genutzt werden.
  3. Strategisches Management der Beschaffung kritischer Rohstoffe und Waren: Zu diesem Zweck soll ein langfristiger systemischer Ansatz geschaffen werden, um eine neue "Abhängigkeitsfalle" (wie sie im Zuge der Covid-19-Pandemie oder des Kriegs in der Ukraine zu Tage getreten ist) zu vermeiden.
  4. Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts: Die ökonomische und soziale Kohärenz soll durch die Stärkung des sozialen Schutzes und des Wohlfahrtsstaats erfolgen, wobei laut Kommission regionale Entwicklungsstrategien und Investitionen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.
  5. Anpassung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung: Die Bildungssysteme müssten sich an eine rasch verändernde technologische und sozioökonomische Realität ausrichten und die sektorübergreifende Arbeitskräftemobilität fördern.
  6. Mobilisierung zusätzlicher zukunftsfähiger Investitionen in neue Technologien und Infrastrukturen: Mittel sollen insbesondere in Forschung und Innovation sowie Synergien zwischen Humankapital und Technologie fließen – mit länderübergreifenden Projekten, die für die Bündelung von europäischen, nationalen und privaten Ressourcen von zentraler Bedeutung sind.
  7. Entwicklung neuer/alternativer Überwachungsrahmen zur Messung von Indikatoren: Dies betrifft etwa die Messung von "Wohlergehen" jenseits des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder die Bewertung der positiven Auswirkungen der Digitalisierung und ihres allgemeinen Kohlenstoffdioxid (CO2)-, Energie- und Umweltfußabdrucks.
  8. Gewährleistung eines zukunftsfähigen Rechtsrahmens für den Binnenmarkt: Dieser soll so konzipiert sein, dass er nachhaltige Geschäftsmodelle sowie Verbraucherinnen- und Verbrauchermuster fördert, zum Beispiel durch die kontinuierliche Verringerung des Verwaltungsaufwands, die Aktualisierung des EU-Instrumentariums für staatliche Beihilfen oder den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) zur Unterstützung der Politikgestaltung sowie der Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung.
  9. Stärkung eines globalen Ansatzes für die Festlegung von Normen und Nutzung des Pioniervorteils der EU im Bereich der wettbewerbsorientierten Nachhaltigkeit: Dieser soll auf dem Grundsatz "Reduzierung, Reparatur, Wiederverwendung und Recycling" beruhen.
  10. Förderung eines soliden Rahmens für Cyber-Sicherheit und sicheren Datenaustausch: Dieser soll unter anderem sicherstellen, dass kritische Einrichtungen Störungen verhindern, abwehren und sich von ihnen erholen können – auch um letztlich Vertrauen in Technologien aufzubauen, die den zweifachen Wandel unterstützen.

Neue Technologien und weitere Schlüsselfaktoren für ein erfolgreiches "grünes" und digitales "Twinning"

Die strategische Vorausschau 2022 enthält eine zukunftsorientierte und umfassende Analyse der Wechselwirkungen zwischen "grünem" und digitalem Wandel. Dabei werden die Rolle neuer aufkommender Technologien sowie wichtige geopolitische, soziale, wirtschaftliche und regulatorische Faktoren berücksichtigt, die das Zusammenspiel der beiden Bereiche beeinflussen.

  • Zentrale Technologien für den "grünen" und digitalen Wandel: Die Europäische Kommission hält fest, dass digitale Technologien dabei helfen, Klimaneutralität zu erreichen, die Umweltverschmutzung zu verringern und die biologische Vielfalt wiederherzustellen. Ihre flächendeckende Nutzung führt jedoch auch zu einem höheren Energieverbrauch, mehr Elektronikabfällen und einem größeren ökologischen Fußabdruck, so die Kommission. Neue Technologien, die sich aktuell in Versuchs-, Demonstrations- oder Prototypphase befinden, sollten künftig dazu beitragen, CO2-Einsparungen zu erzielen. Das ist besonders bedeutsam für jene 5 Branchen mit den aktuell höchsten Treibhausgas-Emissionen in der EU: Energie, Verkehr, Industrie, Baugewerbe und Landwirtschaft. Zu den Beispielen für künftige Technologien in diesen 5 Sektoren zählen:
    • Energie: Neuartige Sensoren, Satelliten-Daten und "Blockchain"-Technologien zur besseren Vorhersage von Energiezeugung und -nachfrage, zur Verhinderung von witterungsbedingten Störungen und zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Austauschs;
    • Verkehr: Batterien der neuen Generation oder digitale Technologien (künstliche Intelligenz, "Internet der Dinge") für mehr Nachhaltigkeit und multimodale Mobilität zwischen verschiedenen Verkehrsträgern (etwa auch im Kurzstreckenflugverkehr);
    • Industrie: "Digitale Zwillinge" (virtuelle Pendants zu physischen Objekten und Prozessen) unter Verwendung von Echtzeitdaten und maschinellem Lernen zur Verbesserung von Konzeption, Produktion und Wartung;
    • Baugewerbe: Bauwerksdatenmodellierung zur Verbesserung der Energie- und Wassereffizienz sowie Beeinflussung der Gestaltung und Nutzung von Gebäuden;
    • Landwirtschaft: Einsatz von Quanteninformatik in Verbindung mit Bioinformatik zum besseren Verständnis der biologischen und chemischen Prozesse für die Verringerung des Einsatzes von Pestiziden und Düngemitteln.
  • Geopolitische, soziale, wirtschaftliche und regulatorische Faktoren mit Einfluss auf das "Twinning": Die Kommission hält im vorliegenden Bericht fest, dass die aktuelle geopolitische Instabilität verdeutliche, dass die EU nicht nur den "grünen" und digitalen Wandel beschleunigen, sondern auch die strategischen Abhängigkeiten verringern müsse, etwa beim nachhaltigen Zugang zu Rohstoffen (Übergang zu kürzeren, weniger anfälligen Lieferketten; Warenaustausch mit gleichgesinnten Staaten im Sinne eines "Friend-Shoring"). Das Wirtschaftsmodell der EU sollte, so die Kommission, auf die Themen Wohlergehen, Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft ausgerichtet werden, wobei die EU eine zentrale Rolle bei der Gestaltung globaler Standards spielen werde. Ausschlaggebend für den Erfolg des "Twinnings" von Nachhaltigkeit und Digitalisierung sei neben der Agenda für soziale Gerechtigkeit und Kompetenzen auch die Mobilisierung öffentlicher und privater Investitionen (voraussichtlich knapp 650 Milliarden Euro pro Jahr für zukunftssichere Investitionen bis 2030).

Die nächsten Schritte

Die Ergebnisse des Berichts fließen in die Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zur Lage der Union ("State of the Union", kurz SOTEU) im September 2022 sowie in die legislative Programmplanung der Europäischen Kommission (Arbeitsprogramme, mehrjährige Programmplanung) ein. Am 17. und 18. November 2022 wird die Kommission die jährliche Konferenz zum "Europäischen System für strategische und politische Analysen" ("European Strategy and Policy Analysis System", kurz ESPAS) mitorganisieren, um die Schlussfolgerungen der strategischen Vorausschau 2022 zu erörtern und die nächste Vorausschau 2023 vorzubereiten.

Hintergrund: Strategische Vorausschau

Die in der strategischen Vorausschau 2022 vorgestellte Analyse basiert auf einer von der Gemeinsamen Forschungsstelle (Joint Research Centre, kurz JRC) durchgeführten und von Expertinnen und Experten geleiteten sektorübergreifenden vorausschauenden Untersuchung. Dabei wurden die EU-Mitgliedstaaten und andere EU-Organe im Rahmen des "Europäischen Systems für strategische und politische Analysen" (ESPAS) umfassend eingebunden sowie Bürgerinnen und Bürger im Rahmen einer auf der Website "Ihre Meinung zählt" veröffentlichten Konsultation befragt. Die Ergebnisse der vorausschauenden Untersuchung wurden in einem Bericht der Gemeinsamen Forschungsstelle aus der Reihe "Science for Policy" vorgestellt.

Die strategische Vorausschau unterstützt die Europäischen Kommission bei der Verwirklichung der 6 politischen Leitlinien von Präsidentin von der Leyen. Seit 2020 wird auf der Grundlage umfassender Prognosezyklen eine jährliche strategische Vorausschau erstellt. Sie dient als Grundlage für die Prioritäten der Kommission gemäß der jährlichen Rede zur Lage der Union, dem Arbeitsprogramm der Kommission und der mehrjährigen Programmplanung.

Der diesjährige Bericht baut auf der strategischen Vorausschau der beiden Vorjahre auf, in denen 2 Themen im Mittelpunkt gestanden sind: die Resilienz als neue Richtschnur für die Politikgestaltung der EU (nähere Informationen zum Bericht 2020) und die offene strategische Autonomie der EU (nähere Informationen zum Bericht 2021).

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