Lage der Rechtsstaatlichkeit in der EU: Kommission veröffentlicht Bericht 2022

Bericht zeigt die Entwicklungen in der EU seit Juli 2021 auf – Analyse von 4 Themenbereichen: Justizsysteme, Korruptionsbekämpfung, Medienfreiheit und -pluralismus, weitere institutionelle Fragen im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung – Kommission gibt erstmals länderspezifische Empfehlungen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit

The statuette of Themis, goddess of divine justice

"Die Europäische Union ist eine Union der Werte, die auf Grundrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gründet", so die Europäische Kommission einleitend in ihrem dritten Jahresbericht 2022 über die Rechtsstaatlichkeit in der EU, welcher am 13. Juli 2022 veröffentlicht worden ist. Der Bericht folgt auf die Berichte aus den Vorjahren (nähere Informationen zum Bericht 2020 und 2021) und informiert über die Gesamtlage der Rechtsstaatlichkeit in der EU. Er umfasst zudem 27 Länderkapitel, in denen auf die Situation in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten eingegangen wird. Der Bericht 2022 unterstreicht die Bedeutung der Wahrung demokratischer Werte, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit – auch und besonders vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine. Erstmals sind im diesjährigen Bericht spezifische Empfehlungen für jeden der 27 Mitgliedstaaten enthalten, welche diese ermutigen sollen, laufende oder geplante Reformen weiter voranzubringen und Bereiche, wo Verbesserungsbedarf besteht, festzustellen.

Rechtsstaatlichkeit zählt zu den Grundwerten, auf welche sich die Europäische Union stützt: Sie garantiert die Achtung der Grundrechte, ermöglicht die wirksame Anwendung und Durchsetzung des EU-Rechts und fördert ein investitionsfreundliches wirtschaftliches Umfeld. Daher ist sie sowohl für die EU-Bürgerinnen und Bürger als auch für Unternehmen von entscheidender Bedeutung.

Vizepräsidentin der Kommission, Jourová: "Die Rechtsstaatlichkeit ist nach wie vor ein Grundpfeiler der Demokratie"

Die für Werte und Transparenz zuständige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Věra Jourová, erklärte im Rahmen der Veröffentlichung des Berichts: "Die Rechtsstaatlichkeit ist nach wie vor ein Grundpfeiler der Demokratie. Russlands Krieg in der Ukraine führt uns erneut vor Augen, wie wichtig unsere Arbeit zur Wahrung und Förderung der Rechtsstaatlichkeit in der EU und darüber hinaus ist. Aus dem diesjährigen Bericht geht hervor, dass es in der Debatte über die Rechtsstaatlichkeit in Europa Fortschritte gibt, da die Mitgliedstaaten Verbesserungen vornehmen und Mängel im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit angehen. Leider bestehen hinsichtlich einiger Mitgliedstaaten nach wie vor Bedenken, insbesondere was die Unabhängigkeit der Justiz betrifft." Jourová weiter: "Mit unseren Empfehlungen, wie die Lage der Rechtsstaatlichkeit EU-weit verbessert werden kann, gehen wir noch einen Schritt weiter. Ich fordere die Mitgliedstaaten auf, den Empfehlungen zu folgen, eine ernsthafte Debatte anzustoßen und Maßnahmen zu ergreifen."

Justizkommissar Didier Reynders ergänzte: "Die grundlose und ungerechtfertigte militärische Aggression Russlands gegenüber der Ukraine zeigt, dass der Schutz und die Förderung der Rechtsstaatlichkeit wichtiger denn je sind. Die EU wird nur dann glaubwürdig bleiben, wenn wir die Rechtsstaatlichkeit im Inneren wahren und die Kultur der Rechtsstaatlichkeit weiter stärken. Ich freue mich, dass unser Bericht zu diesem Ziel einen Beitrag leistet. Er hilft dabei, wichtige Reformen in den Mitgliedstaaten voranzutreiben."

Analyse der 4 Pfeiler der Rechtsstaatlichkeit

Der Bericht über die Rechtstaatlichkeit beruht auf einem intensiven Dialog mit den nationalen Behörden sowie Interessenträgerinnen und -trägern in allen 27 Mitgliedstaaten der EU. Die Bewertungen der Kommission beziehen sich auf die wichtigsten Entwicklungen seit Annahme des zweiten Berichts im Juli 2021.

Die Analyse geht dabei auf die folgenden 4 Themenbereiche ein:

  1. Nationale Justizsysteme
    Aus dem Bericht geht hervor, dass viele Mitgliedstaaten wesentliche Reformen eingeleitet haben, um die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken. Des Weiteren haben sie Maßnahmen eingeführt, um die Effizienz und Qualität der Justiz zu erhöhen, etwa Maßnahmen zur weiteren Digitalisierung der Justizsysteme und zur Erleichterung des Zugangs zur Justiz.
    Demgegenüber bestünden bei einigen Mitgliedstaaten strukturelle Bedenken bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz, so der Bericht. In einigen Mitgliedstaaten würden Herausforderungen hinsichtlich der Ernennung an Gerichten höherer Instanz und Gerichtspräsidentschaften sowie der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften bestehen. Diesbezüglich sehen die Empfehlungen der Kommission unter anderem vor, die Justiz bei Ernennungsverfahren stärker mit einzubeziehen, die Autonomie der Staatsanwaltschaften zu erhöhen und ausreichende Ressourcen für die Justizsysteme bereitzustellen.
  2. Rahmenbedingungen zur Korruptionsbekämpfung
    Die EU ist nach wie vor eine der am wenigsten korrupten Regionen der Welt – das ist eine der Kernbotschaften des Berichts zum Bereich der Korruptionsbekämpfung. Demnach haben seit 2021 viele Mitgliedstaaten neue oder überarbeitete Strategien zur Korruptionsbekämpfung angenommen oder sind dabei, solche Strategie zu erarbeiten. Des Weiteren haben zahlreiche Mitgliedstaaten Maßnahmen ergriffen, um die Kapazitäten der für die Korruptionsbekämpfung zuständigen Strafverfolgungsbehörden zu erhöhen, etwa durch zusätzliche Ressourcen oder Schulungen.
    Die Empfehlungen der Kommission beziehen sich in diesem Bereich hauptsächlich auf die Stärkung des präventiven Rahmens, etwa mit Blick auf die Lobbyarbeit und Interessenkonflikte, sowie auf die Gewährleistung einer wirksamen Ermittlung und Verfolgung von Korruptionsfällen.
  3. Medienfreiheit und -pluralismus
    Die Kommission betont, dass Journalistinnen und Journalisten eine entscheidende Rolle einnehmen würden, wenn es darum geht, Fakten zu prüfen und die Bürgerinnen und Bürger zu informieren. Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie und des Krieges in der Ukraine habe sich die Bedeutsamkeit dieser Aufgaben erhöht, so die Kommission. Aus dem Bericht geht hervor, dass auf der Grundlage der jüngsten Initiativen der Kommission mehrere Mitgliedstaaten Maßnahmen angenommen oder intensiviert haben, um sowohl die Sicherheit als auch die Arbeitsbedingungen von Journalistinnen und Journalisten zu verbessern. Zusätzlich hätten mehrere Mitgliedstaaten Anstrengungen unternommen, um bei den Eigentumsverhältnissen im Medienbereich für mehr Transparenz zu sorgen, stellt der Bericht fest. Nachholbedarf sieht die Kommission unter anderem hinsichtlich der Transparenz bei der Vergabe staatlicher Werbeaufträge und beim Zugang zu öffentlichen Dokumenten. Erstmals ist im Bericht zudem der öffentlich-rechtliche Mediensektor untersucht worden. Die Kommission streicht darin den Schutz der Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien hervor. Des Weiteren sollte die öffentliche Finanzierung angemessen sein und nicht dazu verwendet werden, politischen Druck auf diese Medien auszuüben.
    Die Empfehlungen der Kommission in diesem Bereich betreffen beispielsweise die transparente und gerechte Vergabe staatlicher Werbeaufträge, eine unabhängige Verwaltung der öffentlich-rechtlichen Medien und Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit von Journalistinnen und Journalisten.
    Angesichts der Herausforderungen im Bereich Freiheit und Pluralismus der Medien hat die EU bereits mehrere Initiativen ergriffen, darunter eine Empfehlung zur Sicherheit von Journalistinnen und Journalisten sowie ein Maßnahmenpaket zum Schutz vor missbräuchlichen Klagen gegen die öffentliche Beteiligung (sogenannte "SLAPP-Klagen"). Die Kommission arbeitet aktuell an einem Vorschlag für einen Rechtsakt zur Medienfreiheit.
  4. Weitere institutionelle Fragen im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung
    Laut Bericht haben die Mitgliedstaaten die Qualität ihrer Gesetzgebungsverfahren weiter verbessert. Die Verfassungsgerichte würden weiterhin eine Schlüsselrolle im System der Gewaltenteilung einnehmen, auch bei der Überwachung von Notfallmaßnahmen (im Zuge der Covid-19-Pandemie) sowie in anderen Bereichen wie Wahlen. Der Status von Menschenrechtsinstitutionen, Bürgerinnen- und Bürgerbeauftragten und anderen unabhängigen Behörden ist in einigen Mitgliedstaaten weiter gestärkt worden.
    Mängel sieht der Bericht in einigen Mitgliedstaaten in Bezug auf das Fehlen eines formellen Rahmens für die Konsultation von Interessenträgerinnen und -trägern. So seien zivilgesellschaftliche Organisationen nach wie vor mit Herausforderungen konfrontiert, etwa in Finanzierungsfragen sowie durch negative Narrative und Einschränkungen ihres Handlungsspielraums, so die Analyse der Kommission. Erstmals behandelt der Bericht auch die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch die Mitgliedstaaten. Zudem wird im Bericht die Verwendung von Spähsoftware untersucht: Wenngleich der Einsatz solcher Instrumente mit der nationalen Sicherheit verknüpft ist, sollte er laut Kommission nationalen Kontrollen und Gegenkontrollen unterliegen.
    Die Einbeziehung der Interessenträgerinnen und -träger in den Gesetzgebungsprozess, die Einrichtung und Arbeitsweise akkreditierter nationaler Menschenrechtsinstitutionen und die Gewährleistung eines offenen Handlungsrahmens für die Zivilgesellschaft sind einige der Handlungsfelder in diesem Bereich, zu denen die Kommission Empfehlungen abgegeben hat.

Die nächsten Schritte

Die Kommission hat das Europäische Parlament und den Rat ersucht, die allgemeinen und länderspezifischen Gespräche auf der Grundlage des Berichts fortzusetzen. Im Rat "Allgemeine Angelegenheiten" sind eine horizontale Diskussion zur Situation der Rechtsstaatlichkeit in der EU im September und ein länderspezifischer Austausch im November bereits vorgesehen. Des Weiteren werden die nationalen Parlamente und andere wichtige Akteurinnen und Akteure, einschließlich der Zivilgesellschaft, dazu aufgefordert, den Dialog über die Rechtsstaatlichkeit auf nationaler Ebene weiterzuführen. Schließlich fordert die Kommission die Mitgliedstaaten auf, die im Bericht aufgezeigten Herausforderungen anzugehen, und zeigt sich bereit, sie bei diesen Bemühungen – auch bei der Umsetzung der Empfehlungen – zu unterstützen.

Hintergrund: Der jährliche Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in der EU

Die Veröffentlichung des Berichts über die Rechtsstaatlichkeit und die vorbereitenden Arbeiten mit den Mitgliedstaaten erfolgen jährlich im Rahmen des so genannten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus. Dieser nimmt eine Sonderstellung ein und ergänzt weitere Instrumentarien der EU zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit, wie etwa Vertragsverletzungsverfahren, das Verfahren zum Schutz der Grundwerte der Union nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union sowie die Konditionalitäten-Verordnung zum Schutz des EU-Haushaltes.

Ziel des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ist es, das Verständnis und die Sensibilisierung für Fragen und wichtige Entwicklungen zu verbessern, Herausforderungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit frühzeitig zu erkennen und die Mitgliedstaaten, unter Mitwirkung der Europäischen Kommission und der anderen Mitgliedstaaten, bei der Suche nach Lösungen zu unterstützen sowie durch "Best Practice"-Beispiele voneinander zu lernen. Im Mittelpunkt steht der Gedanke der Prävention. Der jährliche Bericht beleuchtet die Lage in den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die 4 Schlüsselbereiche und basierend auf objektiven Kriterien; alle Länder werden anhand derselben Methodik bewertet.

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