Bundeskanzler Kurz bei Gipfeltreffen im slowenischen Brdo: "Wir müssen den Ländern am Westbalkan eine glaubwürdige Beitrittsperspektive bieten"

"Erklärung von Brdo" bekräftigt europäische Perspektive des Westbalkans – Die Europäische Union will zudem ihre Fähigkeit ausbauen, künftig unabhängiger von anderen Weltregionen zu handeln 

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"Ich begrüße die Schwerpunktsetzung der slowenischen EU-Ratspräsidentschaft hinsichtlich der möglichen EU-Erweiterung. Es ist außerordentlich wichtig, dass sich die EU-Staats- und -Regierungschefs mit den Beitrittsambitionen der Westbalkan-Länder beschäftigen." Das betonte Bundeskanzler Sebastian Kurz im Rahmen des EU-Westbalkan-Gipfeltreffens im slowenischen Brdo pri Kranju am 6. Oktober 2021.

Die Tagung widmete sich den Beitrittsperspektiven von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Kosovo. Am Vortag waren die Außenbeziehungen der EU auf der Agenda eines informellen Treffens der 27 EU-Staats- und -Regierungsspitzen gestanden – auch im Lichte der Entwicklungen auf globaler Ebene in den letzten Monaten (Lage in Afghanistan; trilaterales Militärbündnis AUKUS zwischen den Vereinigten Staaten, Australien und dem Vereinigten Königreich in der Indopazifikregion; Beziehungen EU-China).

Bundeskanzler Kurz beim EU-Westbalkan-Gipfeltreffen: "Für Sicherheit und Stabilität in Europa sorgen"

In der gemeinsamen "Erklärung von Brdo", welche die EU-Mitgliedstaaten in Abstimmung mit den 6 Westbalkan-Staaten angenommen haben, wird festgehalten, dass sich die EU weiterhin zum begonnenen Erweiterungsprozess bekennt. Sie bekräftigt ihre "uneingeschränkte Unterstützung für die europäische Perspektive für den Westbalkan". Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Erweiterungsprozess würden "auf der Grundlage glaubwürdiger Reformen der Partner, einer fairen und strengen Konditionalität und des Grundsatzes der Beurteilung nach der eigenen Leistung" unterstützt, heißt es in dem Dokument. Zugleich wird betont, wie wichtig es sei, dass die EU die eigene Entwicklung aufrechterhalten und vertiefen könne, damit ihre Fähigkeit zur Aufnahme neuer Mitglieder gewährleistet sei. Die Länder des Westbalkans bekräftigen ihrerseits das Bekenntnis zu europäischen Werten und Grundsätzen sowie zur Durchführung notwendiger Reformen.

Neben der Bekräftigung der europäischen Perspektive für den Westbalkan standen auch die Entwicklung der Zusammenarbeit und der sozioökonomischen Erholung der Region im Mittelpunkt, zudem die Umsetzung des im Oktober 2020 vorgelegten Wirtschafts- und Investitionsplans für den Westbalkan.

Bundeskanzler Sebastian Kurz betonte mit Blick auf die 6 Staaten: "Wir müssen den Ländern am Westbalkan eine glaubwürdige Beitrittsperspektive bieten, sie bei den wirtschaftlichen und den Reformbemühungen unterstützen sowie unsere Zusagen ihnen gegenüber einhalten. Das ist außerordentlich wichtig, um weiterhin für Sicherheit und Stabilität in Europa zu sorgen." Wenn man am Westbalkan ein Vakuum hinterlasse, würden dies Staaten wie die Türkei oder China füllen. "Österreich setzt sich für einen Zeitplan zur EU-Erweiterung ein, denn wenn es diesen nicht gibt, bedeutet das oft, dass das Tempo geringer ist, als es sein sollte. Es ist zumindest positiv, dass es den Gipfel und ein Bekenntnis zu einer EU-Erweiterung gibt." Der Bundeskanzler betonte die positive Entwicklung bei den nötigen Reformen in der Region: "Serbien hat etwa ein sehr starkes Wirtschaftswachstum. Daher besteht ein dringendes Interesse daran, dass die EU eine glaubwürdige Position am Balkan einnimmt." Österreich liege der Westbalkan "massiv" am Herzen. Nicht nur historisch, sondern auch geografisch, wirtschaftlich und menschlich sei Österreich mit der Region eng verbunden, betonte Kurz. "Diese Region gehört zu Europa, und sie braucht auch eine europäische Perspektive. Die EU wird erst komplett sein, wenn auch die Westbalkanländer Mitglieder sind."

Informeller Europäischer Rat in Slowenien

Das Treffen in Brdo war die die erste physische Tagung in diesem Format seit 3 Jahren und folgt auf die EU-Westbalkan-Gipfeltreffen von 2018 (Sofia, Bulgarien) beziehungsweise 2020 (Videokonferenz/Zagreb, Kroatien). In Fragen der EU-Perspektive für die 6 Westbalkan-Staaten ziehe man mit Slowenien an einem Strang, so Bundeskanzler Kurz. Das aktuelle Vorsitzland strebe einen Vollzug des Erweiterungsprozesses mit allen Kandidatenländern bis 2030 an. Der Westbalkan und eine glaubwürdige Fortführung des EU-Integrationsprozesses sind Prioritäten des slowenischen EU-Ratsvorsitzes, wie Ministerpräsident Janez Janša erklärte: "Slowenien weiß aus eigener Erfahrung sehr gut, wie wichtig die europäische Perspektive für die Umsetzung der Reformen im Beitrittsprozess ist. Diese Perspektive muss greifbar sein. Es soll glaubwürdig sein, dass ihre Erfüllung noch zu Lebzeiten der heutigen Generation möglich ist, sonst ist sie kein Anreiz mehr."

Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterstrich: "Wir sind eine europäische Familie. Wir teilen die gleiche Geschichte, wir teilen die gleichen Werte – und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir auch das gleiche Schicksal teilen." Eine Aufnahme der Länder in die EU sei gut für den Westbalkan, aber auch gut für die EU. "Wir möchten den Westbalkan in der Europäischen Union haben", so von der Leyen.

Mehr Eigenständigkeit, aber nicht im Alleingang: Die künftige Rolle der EU in der Welt

Am Vortag hatten die EU-Staats- und -Regierungsspitzen über die Außenbeziehungen der EU beraten. Um auf der internationalen Bühne "wirksamer und entschlossener" zu werden, müsse die EU ihre Fähigkeit, autonom zu handeln, ausbauen – dies gelte sowohl für die EU in ihrer Rolle als Wirtschaftsmacht (Binnenmarkt, Standards, gleiche Wettbewerbsbedingungen und Gegenseitigkeit) als auch bei der Sicherheit und Verteidigung der EU. So lautet eine der Schlussfolgerungen, die Ratspräsident Charles Michel im Anschluss an den informellen Austausch der Staats- und -Regierungsspitzen am 5. Oktober 2021 gezogen hat.

"Unsere Einheit ist unser wichtigstes Gut. Durch gemeinsames Handeln werden wir uns unsere Stärken zunutze machen. Wir ziehen die Lehren aus den jüngsten Krisen und setzen uns dafür ein, unsere Stärken zu festigen und unsere Resilienz zu erhöhen, indem wir unsere kritischen Abhängigkeiten verringern," so Ratspräsident Michel. Abhängigkeiten verringern und resilient werden soll die EU insbesondere in Bereichen wie Energie, Digitales, Cybersicherheit, Halbleiter, Industriepolitik, Handel. Gegenüber China, das man als "einen Wettbewerber, einen Partner und einen systemischen Rivalen" betrachte, werde die EU auch ihre eigenen Interessen verfolgen. Bereits beginnend mit der nächsten Tagung der Mitglieder des Europäischen Rates am 21. und 22. Oktober 2021 in Brüssel sollen Themen rund um die strategische Autonomie der EU weiter regelmäßig diskutiert werden und auch die nächsten Monate hoch auf der Agenda angesiedelt bleiben.

Zugleich strich Michel hervor, dass sich die EU nicht abschotten wolle und sich die Bemühungen nicht gegen die USA oder andere Partner richten würden. "Die EU ist weltoffen und lehnt Protektionismus ab", teilte der Ratspräsident mit. Man sei entschlossen, mit "unseren Verbündeten und gleichgesinnten Partnern zusammenzuarbeiten", insbesondere mit den USA und innerhalb der NATO, welche "der Eckpfeiler unserer Sicherheit" sei. Die EU sei "entschiedener Befürworter des Multilateralismus" – sei es im Rahmen der Vereinten Nationen (UNO), von G20, G7 oder anderen Formaten – und trete für eine "regelbasierte internationale Ordnung" ein, so der Wortlaut der Schlussfolgerungen.

Hintergrund: Beziehungen zwischen der EU und den Westbalkan-Staaten

Alle 6 Länder des Westbalkans haben eine europäische Perspektive; der Weg zu einer Mitgliedschaft in der EU ist jedoch unterschiedlich weit fortgeschritten. Die EU ist der wichtigste politische, wirtschaftliche und handelspolitische Partner des Westbalkans. Sie ist mit 69 Prozent der mit Abstand größte Handelspartner für die Westbalkan-Staaten (im Vergleich: China 8 Prozent, Türkei 5 Prozent, Russland 4 Prozent, andere 14 Prozent). Der Warenhandel belief sich 2020 auf 50 Milliarden Euro – ein Plus von 84 Prozent im Verlauf der letzten 10 Jahre. Die Europäische Union ist zudem Investor Nummer 1 in der Region mit ausländischen Direktinvestitionen (Foreign Direct Investments, kurz FDI) in Höhe von 3 Milliarden Euro (2020).

  • Wirtschafts- und Investitionsplan: 
    Im Rahmen des im Oktober 2020 vorgelegten Wirtschafts- und Investitionsplans (Economic and Investment Plan for the Western Balkans, kurz EIP) wird die EU über die nächsten 7 Jahre für die Region eine finanzielle Unterstützung in Höhe von rund 30 Milliarden Euro leisten. Dies erfolgt über 10 Investitions-Leitinitiativen, vor allem für Infrastruktur, Energie, Umwelttechnologie, Tourismus sowie im Bereich Agrartechnologie. Ziel des Wirtschafts- und Investitionsplans ist es,
    • die langfristige wirtschaftliche Erholung zu fördern,
    • den grünen und den digitalen Wandel zu beschleunigen,
    • die regionale Zusammenarbeit zu unterstützen und
    • die Konvergenz mit der EU zu fördern.

Der Plan soll dazu beitragen, öffentliche und private Investitionen anzuziehen, die durch die Garantiefazilität für den Westbalkan abgesichert werden. Der Wirtschafts- und Investitionsplan soll durch gemeinsame Anstrengungen eine Triebkraft für einen nachhaltigen, positiven Wandel in der Region sein. Die Unterstützung der EU ist daher an Fortschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, an soziale und wirtschaftliche Reformen und die Einhaltung der europäischen Werte, Regeln und Standards geknüpft.

  • Reaktion auf Covid-19:
    Die EU hat im Zuge der Coronavirus-Pandemie ein Paket in Höhe von bisher insgesamt 3,3 Milliarden Euro zugunsten des Westbalkans mobilisiert; es umfasst Unterstützung für den Gesundheitssektor und für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Erholung, ein Hilfspaket der Europäischen Investitionsbank (EIB) sowie Makrofinanzhilfe. Die Staaten des Westbalkans haben bis September 2021 von der EU und ihren Mitgliedstaaten insgesamt 2,9 Millionen an Impfdosen (mit in der EU zugelassenen Impfstoffen) erhalten.
Covid-19: Mehr als 3,3 Milliarden Euro Unterstützung für den Westbalkan

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