Bundeskanzler Nehammer: Demokratie muss jeden Tag erneuert werden
Festakt "Bundeskanzleramt: 100 Jahre Amtssitz der Bundeskanzler"
"100 Jahre haben gezeigt: Es waren heftige Zeiten, die dieses Haus erlebt hat – in der Ersten Republik und in der Folge beim Aufbau der Zweiten Republik. Es ist notwendig, dass wir uns als Demokratinnen und Demokraten immer wieder mit der Geschichte auseinandersetzen und uns bewusst sind, dass das, was wir haben, zwar für uns schon selbstverständlich geworden ist, aber für Viele auf der Welt als außergewöhnlich gilt", betonte Bundeskanzler Karl Nehammer beim Festakt "Bundeskanzleramt: 100 Jahre Amtssitz der Bundeskanzler" im Kongresssaal des Bundeskanzleramtes. Demokratische Staaten seien in der Anzahl der Staatengemeinschaft in der Minderheit.
"1995 haben wir einen wesentlichen Schritt der Veränderung gewagt und sind der Europäischen Union beigetreten. Das hat viel für die Demokratie bedeutet, weil wir bereit waren, auch die eigene Souveränität ein Stück weit abzugeben", hielt der österreichische Regierungschef bei seiner Ansprache fest. Das müsse jeden Tag neu erklärt werden und führe dazu, dass man das, was Österreich ausmache, nicht einfach so zur Kenntnis nehmen dürfe. Und so sei anlässlich des Jubiläums die Idee entstanden, sich dies wieder zu vergegenwärtigen. "Wir sehen es weltweit und in unserem Land: Demokratie ist auch bei uns keine Selbstverständlichkeit. Wir erleben als Gesellschaft, dass wir nicht nur durch interne Prozesse, sondern durch einen Druck, der seltsam von außen auf uns einwirkt, ständig Veränderungen ausgesetzt sind: etwa, wenn ich an die Revolution durch Digitalisierung denke und welchen Druck soziale Medien auf das bisher gewohnte Medienverhalten auslösen und auch welche Veränderung damit erreicht wird", so der Bundeskanzler, denn Hassbotschaften im Internet würden die Menschen und die Gesellschaft besonders stark treffen.
Man erlebe Desinformationskampagnen, Angstmache, Fake News und eine Transformation. Die Deutungshoheit liege oft bei einzelnen Userinnen und Usern, die heute viel Macht über Bildsprache oder Information hätten. "Diese Phänomene und der Umgang damit müssen in der Bildung miteinfließen, auch bei der Erwachsenenbildung", ergänzte Nehammer.
Demokratie funktioniert nur, wenn Menschen sich daran beteiligen
"Demokratie muss jeden Tag erneuert werden. Das heißt, dass wir uns als politisch Verantwortliche daran erinnern müssen, dass wir unsere Wortwahl immer wieder reflektieren und darüber nachdenken, was Worte auslösen können", erläuterte der Kanzler. "Bereits ausgesprochene Verwundungen und Verletzungen können verführen, radikalisieren und Veränderungen herbeiführen. Es ist in der Politik unsere Aufgabe, gemeinsam die Verantwortung zu tragen", betonte Nehammer.
"Viele Ehrenamtliche und ihre Organisationen stellen einen wichtigen Lückenschluss zu dem dar, was der Staat an sich in der Lage ist zu leisten: Verantwortung zu tragen, der Umgang miteinander und der Respekt zueinander sind besonders wichtig." Man sehe, wie Menschen, etwa in den sozialen Medien, in die Öffentlichkeit gezerrt werden und somit auch deren Leben und das ihrer Familie, womit große Belastungen einhergehen würden. "Das muss uns mahnen, genau hinzuschauen, wenn es darum geht, Demokratie zu erneuern. Denn Demokratie funktioniert nur, wenn Menschen sich daran beteiligen. Wir haben dafür zu sorgen, dass die Demokratie wehrhaft ist." Und dieser Satz drücke vor allem eine notwendige Leidenschaft aus: "Leidenschaft, im Notfall dafür zu kämpfen, was uns gemeinsam in dieser Republik Österreich wichtig ist, wofür wir gemeinsam einstehen und es sich lohnt, gemeinsam dafür zu kämpfen." Denn das sei nicht mehr selbstverständlich, betonte der Bundeskanzler mit Blick auf den Angriffskrieg auf die Ukraine und den Terror in Israel. "Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Solche Gruppen dürfen nicht damit durchkommen und uns weismachen, dass sie irgendeine Legitimation haben." Und man müsse, so Nehammer, Verbrechen klar als Verbrechen benennen, denn: "Wer weiß das besser als wir, die Verantwortung für unsere Geschichte tragen."
Verantwortung übernehmen für unsere Geschichte
Mit Blick auf die unter den Gästen anwesenden Vorgänger und Bundeskanzlerin a.D. Brigitte Bierlein ging Nehammer auf die Geschichte des Bundeskanzleramts weiter ein und betonte: "Jeder Bundeskanzler hat seine besondere Geschichte mit diesem Haus." Mit Franz Vranitzky und Alois Mock an seiner Seite habe das Haus den Beitritt zur Europäischen Union, aber auch das klare Bekenntnis zur Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus erlebt, Wolfgang Schüssel habe diese Tradition weitergeführt und klargemacht, "dass wir für unsere Geschichte Verantwortung übernehmen müssen". Brigitte Bierlein habe, so Nehammer weiter, als Bundeskanzlerin "die Eleganz der Verfassung in einer schwierigen Zeit ausgedrückt". Alexander Schallenberg habe gezeigt, dass es notwendig sei, Verantwortung zu übernehmen und diesem Land zu dienen. "Als Bundeskanzler der Republik Österreich ist es eine Ehre, diesem Land zu dienen. Dienen ist nicht etwas Schlechtes, sondern etwas Gutes. Man setzt sich für jemanden und eine große Gemeinschaft ein."
"Es ist außergewöhnlich, wenn man dieses Haus betritt und in seine Geschichte blickt." Besonders beeindruckend sei es für ihn, so Bundeskanzler Karl Nehammer, sich mit den Gründungsvätern der Zweiten Republik auseinanderzusetzen: "Wie Leopold Figl gemeinsam mit allen Streitparteien der Ersten Republik, Christlichsozialen und Sozialdemokraten, diese Republik wiederaufgebaut hat, ist eindrucksvoll." Im Hinblick auf diese schwierigen Zeiten schloss der Kanzler mit zuversichtlichen Worten für die Gegenwart und Zukunft: "Auch wir haben schwierige Zeiten erlebt. Die Menschen in diesem Land haben eine schwierige Zeit hinter sich gebracht: Das Virus, der Krieg in der Ukraine, die Teuerung, der Terror und viel Angst, die herumgeht. Aber Angst kann man nur mit Zuversicht, mit Selbstvertrauen, der eigenen Wehrhaftigkeit, Widerstandsfähigkeit und dem Glauben an seine eigenen Stärken begegnen. Der Glaube an dieses Österreich, das so viel erlebt hat, ist essentiell. Diese Zuversicht teile ich mit meiner Vorgängerin und meinen Vorgängern und freue mich darauf, mit allen Anwesenden darüber nachzudenken, wie wir diese Demokratie stetig erneuern können."
Bilder vom Festakt sind über das Fotoservice des Bundeskanzleramts kostenfrei abrufbar.