Bundeskanzler Schallenberg: Bekennen uns zu den dunkelsten Kapiteln unserer Vergangenheit

Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Österreich eröffnet

"Blinder Hass, Neid, Herrenmenschendünkel und ein jahrhundertelang tradierter Antisemitismus brachen ab März 1938 über unsere jüdischen Mitmenschen herein. Viele konnten nur durch Flucht ihr nacktes Leben retten. Aber vielen gelang das nicht. Über 64.000 österreichische Jüdinnen und Juden fielen den Gräueltaten des NS-Regimes zum Opfer. Sie wurden deportiert, verhungerten in Ghettos, wurden in Wäldern erschossen oder in Vernichtungslagern bestialisch ermordet und zugrunde gerichtet. Mit diesen Namensmauern entreißen wir ihre Namen und ihre Geschichte dem Vergessen. Wir geben ihnen ihre Identität, ihre Individualität zurück und damit einen Teil ihrer menschlichen Würde", sagte Bundeskanzler Alexander Schallenberg bei der Eröffnung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte im Wiener Ostarrichipark am 9. November. Vor 83 Jahren fanden in der Terrornacht von 9. auf den 10. November die Novemberpogrome von 1938 statt.

Der Bundeskanzler erinnerte in seiner Rede daran, dass 1938, zum Zeitpunkt des Anschlusses durch Nazi-Deutschland, in Österreich rund 210.000 Jüdinnen und Juden lebten. Nach Kriegsende 1945 waren es nur noch zwischen 2.000 und 5.000. Hinter jedem einzelnen Namen der 64.440 Namen auf den Mauern stehe ein Mensch, ein Schicksal, eine Geschichte. "Nun erhalten sie wieder einen Platz in ihrer Heimat. Das sind wir alle den Opfern der Shoah und ihren Nachkommen schuldig", hielt der österreichische Regierungschef fest.

Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Lehren aus der Zeit mitnehmen – jüdisches Leben aktiv schützen

So unbeschreiblich die Grausamkeit des Nationalsozialismus gewesen sei, so notwendig und wichtig seien die Lehren, die gerade Österreich daraus zu ziehen habe. "Zu lange hat sich Österreich selbst ausschließlich als Opfer des Nationalsozialismus betrachtet. Zu viele aber standen aber im März 1938 am Heldenplatz und haben mitgejubelt. Zu viele haben zugeschaut, ja sogar mitgemacht, als ihre Mitmenschen beraubt, vertrieben und ermordet wurden", so der Kanzler. Mit der Shoah Namensmauern Gedenkstätte werde nun – auch für alle nachfolgenden Generationen – ein sichtbares Zeichen gesetzt, "dass wir uns zu den dunkelsten Kapiteln unserer Geschichte bekennen und dass wir Verantwortung übernehmen".

Zu dieser Verantwortung gehöre auch aktives Handeln in der Gegenwart und in der Zukunft. Wo immer es möglich sei, müsse alles darangesetzt werden, Opfern des Holocaust und ihren Familien die Hand zu reichen und um Versöhnung zu bitten. Zudem müsse alles getan werden, damit sich die Geschichte nicht wiederholt: "Nicht in Österreich, nicht in Europa, oder sonstwo auf der Welt." Jüdisches Leben müsse, wo immer notwendig, aktiv geschützt werden. Das beinhalte auch das klare Auftreten gegen jede Form von Hass und Antisemitismus. "Und eines ist klar: Nur wenn Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt in Sicherheit und Freiheit leben können, kann aus einem "niemals vergessen" ein "niemals wieder" werden", hielt Alexander Schallenberg fest.

Würde jedes Menschen ist unteilbar – Ort der Begegnung und der Anteilnahme

Die Gedenkstätte geht auf eine Initiative des aus Österreich stammenden Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter und des Vereines zur Errichtung einer Shoah Namensmauern Gedenkstätte zurück. In Zusammenarbeit mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) konnte dieses wichtige Erinnerungsprojekt nach einem Beschluss des damaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz 2018 begonnen und mit Hilfe der Bundesländer und der österreichischen Wirtschaft nun nach unermüdlichen und jahrelangen Bemühungen Tutters fertiggestellt werden.

"Dieses Mahnmal wurde schließlich nur durch das Zusammenwirken vieler möglich. Sie alle haben damit unserer Gesellschaft und unserem Land einen enormen Dienst erwiesen. Sie haben geholfen, einen ergreifenden und berührenden Ort der Begegnung, des Gedenkens und der Andacht zu schaffen. Und zwar nicht irgendwo, sondern hier mitten unter uns. Ein Denkmal, das uns stets daran erinnern wird, dass die Würde eines jeden Menschen unteilbar ist, dass wir sie stets schützen, stets hochhalten müssen. Egal wann, egal wo", bedankte sich Schallenberg bei Kurt Yakov Tutter und allen Mitwirkenden herzlich.

"Wir werden nie davor gefeit sein, dass sich die Geschichte wiederholt. Es liegt einzig und alleine an uns, an jedem einzelnen von uns, Hass und Ausgrenzung keinen Platz zu bieten und dafür zu sorgen, dass aus einem 'niemals vergessen' ein 'niemals wieder' wird", so der Bundeskanzler abschließend.

Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Kanzleramtsministerin Edtstadler: Republik setzt sichtbares Zeichen ihrer Verantwortung und ehrt das Leben ihrer 64.440 ermordeten Töchter und Söhne

"Mit der Shoah Namensmauern Gedenkstätte setzt die Republik Österreich ein sichtbares Zeichen ihrer Verantwortung. Auf 160 Namensmauern sind die Namen der Opfer in Stein eingemeißelt. Damit geben wir ihnen ihren Namen und damit zumindest einen Teil ihrer Würde zurück. Und wir führen uns vor Augen, dass hinter den 64.440 Namen einzelne Menschen – Kinder, Mütter, Väter und Nachbarn – mit individuellen Geschichten und menschlichen Schicksalen stehen. Diese Gedenkstätte ist ein Ort, der den Nachfahren die Möglichkeit gibt, ihrer Angehörigen zu gedenken. Und sie soll ein Ort sein, der den Besucherinnen und Besuchern das Ausmaß des Menschenhasses der Nationalsozialisten vermitteln soll. Ein besonderer Dank gilt vor allem Kurt Yakov Tutter, der sich mit großer Beharrlichkeit der Verwirklichung dieses Projekts verschrieben hat", sagte Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler anlässlich der Eröffnung. "Wir sollten uns und kommenden Generationen immer wieder bewusstmachen, zu welchen Grausamkeiten der Mensch fähig ist. Gerade deshalb gilt es dafür einzutreten, dass das gemeinsame Europa für immer ein Ort des Friedens und der Freiheit bleibt", so Edtstadler.

Die auf den Shoah Namensmauern verewigten 64.440 Namen beruhen auf der Opferdatenbank des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW). Der wissenschaftliche Leiter des DÖW, Gerhard Baumgartner, sagte: "Wir gratulieren im Namen all unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Kurt Yakov Tutter und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern zum Erfolg seiner jahrzehntelangen Bemühungen um die Errichtung einer Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Es erfüllt uns mit Stolz, dass es uns durch unsere langjährigen Forschungen gelungen ist, die genauen Namen und Daten von über 64.440 österreichischen Opfern der Shoah zu dokumentieren und so zum Gelingen dieses großen Erinnerungsprojektes beizutragen."

Steinerne Stelen machen die geraubten Leben begreifbar

Die Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, Hannah Lessing, hielt fest: "Die Shoah Namensmauern Gedenkstätte gibt den Opfern einen Platz im kollektiven Gedächtnis. Sie ist eine Einladung, an die Familien der Opfer und an alle Menschen in Österreich: Kommt und gedenkt. Erinnert Euch an ihre Schicksale und ehrt ihr Leben. Die Gedenkstätte ist zudem ein Ort mit großer suggestiver Kraft: Wenn man im weiten Oval der Granittafeln steht, umgeben von den 64.440 eingravierten Namen, erahnt man erst, welch gewaltigen Verlust der Holocaust mit sich gebracht hat: Die steinernen Stelen machen jedes einzelne Opfer sichtbar, jeden einzelnen Namen fühlbar, die 64.440 geraubten Leben begreifbar. Die bloßen Zahlen werden immer unfassbar sein. Die Namen jedoch erreichen die Herzen. Es ist eine beeindruckende Mahnung, solche Verbrechen nie wieder zuzulassen."

Initiator Kurt Yakov Tutter und die Durchführung des Projekts

Der Initiator der Shoah Namensmauern Gedenkstätte, Kurt Yakov Tutter, wurde 1930 in Wien geboren. 1939 flüchtete er mit seiner Familie nach Belgien. Seine Eltern wurden 1942 von Brüssel nach Auschwitz deportiert. Eine belgische Familie in Gent versteckte Kurt und seine Schwester Rita und rettete ihnen so das Leben. 1948 wanderte Kurt Tutter nach Kanada aus, er wohnt seither in Toronto. Für den unermüdlichen Einsatz zur Umsetzung des Projekts wurde Kurt Yakov Tutter das große Ehrenzeichens für die Verdienste um die Republik Österreich verliehen.

Die gestalterische Planung und Realisierung der Gedenkstätte erfolgte durch Wehofer Architekten ZT GmbH. Zur Durchführung des Projekts wurde die Bundesimmobiliengesellschaft m.b.H. mit der Bauabwicklung beauftragt. Der Nationalfonds der Republik Österreich wurde mit der Verwaltung der Finanzen einschließlich der öffentlichen Subventionen, der Spenden und der Ausgaben betraut.

Das Erinnerungsprojekt wurde von der Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern, der Stadt Wien und der Österreichischen Nationalbank unter der Schirmherrschaft des Nationalratspräsidenten umgesetzt. Der wesentliche Teil der Finanzierung erfolgte durch die Bundesregierung. Zudem haben die Bundesländer sowie die Industriellenvereinigung einen Beitrag zur Realisierung des Projekts geleistet. Die Projektkosten in Höhe von rund 5,3 Millionen Euro wurden mit Beiträgen aller beteiligten Stellen finanziert.

Eröffnung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte im Ostarrichipark

(Eröffnung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte im Ostarrichipark auf YouTube ansehen.)

Bilder von dieser Veranstaltung sind über das Fotoservice des Bundeskanzleramts kostenfrei abrufbar.