Bundeskanzler Kurz zu Novemberpogromen 1938: "Österreich hat eine besondere historische Verantwortung, jüdisches Leben zu schützen"

Gesetzesentwurf über die Absicherung österreichisch-jüdischen Kulturerbes

"Wir gedenken heute der fürchterlichen Ereignisse der Novemberpogrome von 1938. Diese dunkle Nacht vom 9. auf den 10. November markiert eine folgenschwere Wende. Aus den Worten des nationalsozialistischen Rassenwahns wurden Taten. Taten, die sich gegen unsere jüdischen Mitmenschen richteten, Taten, die die Grundlage für das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte, die Shoah, bildeten. Nach den Ereignissen dieser Nacht wurde aus Diskriminierung Verfolgung, aus Bedrohung Gewalt und aus Ausgrenzung Vernichtung", sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz beim Gedenkakt anlässlich der Novemberpogrome und der Ankündigung des Gesetzesentwurfs über die Absicherung österreichisch-jüdischen Kulturerbes (ÖJKG) im Bundeskanzleramt. Die Bundesregierung war zudem durch Vizekanzler Werner Kogler und Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler vertreten.

"Heute dürfen wir stolz und dankbar sein, dass Österreich wieder eine lebendige und blühende jüdische Gemeinde hat. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass das Gift des Antisemitismus noch nicht verschwunden ist, weder in Österreich noch in Europa noch in der Welt. Wir als Republik Österreich haben aufgrund unserer Geschichte eine ganz besondere historische Verantwortung, jüdisches Leben zu schützen, bei uns und anderswo", betonte Bundeskanzler Kurz. Das beginne beim in Österreich verwurzelten Antisemitismus, den man konsequent bekämpfen müsse. Auch wenn der Antisemitismus heute weniger auffalle, so sei doch jede Attacke eine zu viel. Man dürfe nicht müde werden, diese "mit allen Mitteln des Rechtsstaates" zu bekämpfen.

Darüber hinaus müsse man auch das österreichisch-jüdische Kulturerbe schützen und bewahren. Dazu gehöre auch der Schutz der jüdischen Einrichtungen, die Stärkung des Gemeindelebens und der Dialog mit anderen Religionen. "Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, ein neues Bundesgesetz über die Absicherung des jüdischen Kulturerbes in Österreich auf den Weg zu bringen. Die Republik wird die israelitische Religionsgesellschaft in Zukunft jährlich mit 4 Millionen Euro bei ihrer wichtigen Arbeit unterstützen", sagte der Regierungschef. Sebastian Kurz bedankte sich insbesondere bei Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler und dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, die durch eine gute Zusammenarbeit diesen "historischen Schritt" möglich gemacht hätten.

Kurz: "Antisemitische Vorurteile haben in Österreich keinen Platz"

Letztlich müsse man in Österreich darauf achten, dass nicht ständig neuer Antisemitismus importiert werde. Man erlebe immer wieder, dass manche Menschen antisemitische Vorurteile aus ihren Heimatländern mitbringen und dieses Gedankengut nicht vergessen. "Egal ob diese Vorurteile religiös oder politisch motiviert sind: Für diese ist in Österreich kein Platz. Nur wer die Würde jedes einzelnen Menschen gleichermaßen respektiert, hat Platz in unserem Land. Gegenüber Intoleranz darf es keine falsch verstandene Toleranz geben", betonte der Kanzler.

Man sei erst letzte Woche durch den islamistischen Terroranschlag erinnert worden, dass Österreich keine Insel der Seligen sei. Dieser Anschlag erinnere daran, dass extremistische Ideologien, ganz gleich ob rechts, links oder islamistisch, oft eines gemeinsam haben: nämlich den Hass auf Jüdinnen und Juden. "Daher zeigt sich einmal mehr, dass wir eine große Verantwortung haben, unsere freie Gesellschaft zu verteidigen und das jüdische Leben in unserem Land zu schützen. Wir werden nicht müde, wenn es darum geht, diese wichtige Aufgabe zu erbringen und unsere historische Verantwortung zu leben. In Österreich, in Europa und der Welt", so Bundeskanzler Sebastian Kurz in seiner Ansprache.

Edtstadler: Initiativen zur Förderung und Absicherung des österreichisch-jüdischen Lebens vorantreiben

Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler erklärte in ihrer Rede: "Wir gedenken heute der unfassbaren und unentschuldbaren Ereignisse, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ereignet haben. Eine Nacht, in der die Enteignung, Vertreibung und Ermordung österreichischer Jüdinnen und Juden ein für alle sichtbares und unfassbares, verheerendes Ausmaß angenommen hat. Dieser 9. November 1938 muss uns allen eine Mahnung bleiben, um niemals zu vergessen und um zu verhindern, dass sich Derartiges wieder ereignet."

Gerade heute, Jahrzehnte nach den dunkelsten Kapiteln in der Geschichte Österreichs, müsse man wachsam bleiben. Denn seit Jahren sei in ganz Europa, aber auch in Österreich ein Anstieg an antisemitischen Vorfällen und terroristischen Angriffen festzustellen, so erst letzte Woche in Wien. Begangen von Menschen, die die freie und demokratische Lebensweise ablehnten. "Wir werden jedoch nicht zulassen, dass diese Menschen unser gesellschaftliches Leben aus dem Gefüge bringen. Wir werden an unseren Werten festhalten und sie verteidigen", bekräftigte Karoline Edtstadler.

Man wolle am heutigen Tag aber nicht nur gedenken, sondern auch in die Zukunft blicken: "In eine Zukunft, in der die Sicherheit der jüdischen Gemeinde auch weiterhin oberste Priorität für die Republik Österreich hat. In eine Zukunft, in der die jüdische Kultur in Österreich blüht und gedeiht und in der wir unsere Werte und Freiheiten leben können", so die Ministerin, die sich bei Bundeskanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Werner Kogler dafür bedankte, dass sie gemeinsam mit der Bundesregierung Initiativen zur Förderung und Absicherung des österreichischen jüdischen Lebens vorantreiben. Ein weiterer Dank galt dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, für seinen unermüdlichen Einsatz.

Kogler: "Nie wieder muss wirklich nie wieder bedeuten"

"Während des Novemberpogroms wurden Jüdinnen und Juden gequält, gedemütigt und zügelloser, staatlich tolerierter, antisemitischer Gewalt ausgesetzt. Viele wurden ermordet, viele wurden aber auch in den Selbstmord getrieben. Ziel dieser geplanten und organisierten Vorgangsweise war die Verbannung und Ausschaltung der Jüdinnen und Juden aus dem gesellschaftlichen Leben", hielt Vizekanzler Werner Kogler in seiner Rede fest und erinnerte daran, dass es in Wien vor den Pogromen 6 große Synagogen, 18 von Vereinen betriebene Synagogen und 78 Bethäuser gegeben habe.

Der Holocaust, aber auch die verfehlte Politik in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik, habe dazu geführt, dass sich heute nur mehr rund 15.000 Personen der jüdischen Gemeinde zugehörig fühlen. Diese Gemeinde führe jedoch ein lebendiges kulturelles Leben. Dieses sei aber zunehmend bedroht, so der Vizekanzler, der an den Angriff auf Elie Rosen in Graz und den Wiener Anschlag erinnerte. Die Republik trage Verantwortung für die Sicherheit all seiner Bürgerinnen und Bürger. Besondere Verantwortung aber habe sie für den Schutz jüdischen Lebens in Österreich.

"Nur wenn wir jüdisches Leben in Österreich unterstützen, werden auch unsere Kinder ein lebendiges, kulturelles österreichisch-jüdisches Leben erfahren können. Wir wollen uns daher Antisemitismus in jeglicher Ausprägung vehement entgegenstellen. Nie wieder muss eben wirklich nie wieder bedeuten", so der Vizekanzler.

Deutsch: "Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat keine Zukunft"

Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, betonte in seinem Statement: "Der 9. November ist ein Tag der schmerzhaften Erinnerung. Vor 82 Jahren wurden Synagogen, Geschäfte und Wohnungen gestürmt. Wer Jude war, schwebte plötzlich in Lebensgefahr, weil er Jude war. Alleine in Wien wurden mindestens 27 Menschen ermordet, Tausende verprügelt und festgenommen. Die Deportationen begannen am nächsten Tag. Es war der Vorabend der Shoah. Heute ist es unsere Pflicht, den Opfern zu gedenken. Wir erinnern, damit es nie wieder geschieht. Wo Hass gedeiht, besteht Lebensgefahr."

Für viele Jüdinnen und Juden habe mit der Befreiung 1945 die Identitätssuche begonnen. Die wenigen, die zurückkommen wollten, seien hier nicht willkommen gewesen. Im Selbstverständnis der Zweiten Republik sei Österreich Hitlers Opfer gewesen. Das Schicksal der Jüdinnen und Juden sowie anderer Verfolgter sei sekundär gewesen. "Antisemitismus war kein Tabu", so Deutsch. "Jüdisches Leben fand hinter verschlossenen Türen statt." Vor dem Eindruck der Waldheim-Affäre und dem Aufstieg Jörg Haiders habe Franz Vranitzky mit dem Eingeständnis der Mitschuld Österreichs an den NS-Gräueltaten für einen "Paradigmenwechsel" gesorgt. "Das war historisch." Trotzdem sei die jüdische Gemeinde in Österreich auch heute noch auf Polizeischutz angewiesen. "Heute sind mehr als 20 Prozent des Gemeindebudgets Sicherheitsausgaben." Erst unter der damaligen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner habe die Republik damit begonnen, einen Teil dieser Ausgaben zu übernehmen, "ein Meilenstein", so Oskar Deutsch.

Bundeskanzler Sebastian Kurz sei es, wie seit Franz Vranitzky keinem zweiten, stets ein ehrliches Anliegen, das "Judentum als integralen Bestandteil der österreichischen und europäischen Identität" zu unterstützen. "Für die Kultusgemeinde und ihre Anliegen hat der Bundeskanzler immer besonderes Verständnis." Der Gesetzesentwurf zur Absicherung des jüdischen Lebens in Österreich sei ein "historisches Projekt", das die Handschrift von Sebastian Kurz trage, so Präsident Deutsch. Auch Bundesministerin Karoline Edtstadler habe sich außerordentlich dafür eingesetzt. Deutsch bedankte sich zudem bei Vizekanzler Werner Kogler für dessen Unterstützung, um "jüdisches Leben in Österreich abzusichern, als Teil der großartigen Vielfalt in unserem Land".

"Mit Hilfe dieses Gesetzes werden wir unseren Kindern und Enkelkindern eine abgesicherte jüdische Gemeinde überlassen, die zur Vielfalt und Prosperität Österreichs beiträgt, ohne dabei die Opfer der Shoah zu vergessen. Denn es ist tatsächlich so: Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat keine Zukunft", so Präsident Deutsch abschließend.

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Bilder vom Gedenkakt sind über das Fotoservice des Bundeskanzleramts  kostenfrei abrufbar.