Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält Rede zur Lage der EU 2023: "Europa muss sich wieder gemeinsam seinen historischen Herausforderungen stellen"

Die Reaktion der EU auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Reduktion der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, sowie die Stärkung von Wohlstand und Resilienz durch den EU-Aufbauplan im Fokus der Rede – Kommissionspräsidentin von der Leyen: "Dies ist der Moment, um der jungen Generation zu zeigen, dass wir einen Kontinent gestalten können"

Ursula von der Leyen

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hielt am 13. September
2023 vor dem Plenum des Europäischen Parlaments in Straßburg ihre vierte "Rede zur Lage
der Union" (auf Englisch: "State of the Union", kurz SOTEU). Darin skizzierte sie die wichtigsten Prioritäten und Leitinitiativen für das kommende Jahr, aufbauend auf den bisherigen Erfolgen und Errungenschaften der Europäischen Union. Des Weiteren verwies sie auf die Wahl des Europäischen Parlaments im Juni 2024 und betonte, in einer Welt voller Ungewissheiten müsse sich Europa wieder gemeinsam seinen historischen Herausforderungen stellen. Nach dem Grundsatz: "Heute handeln, um für morgen bereit zu sein" erklärte die Kommissionspräsidentin, dass die Zukunft des europäischen Kontinents von den gegenwärtigen Entscheidungen und von den Schritten zur Vollendung der Union abhänge.

Ein grünes, digitales und geopolitisches Europa

Von der Leyen dankte bei ihrer Rede im Europaparlament einleitend den anwesenden Abgeordneten für deren Unterstützung bei den ehrgeizigsten Transformationen, die die EU je in Angriff genommen habe. "Schauen Sie nur, wo Europa heute steht: Wir haben die Geburt einer geopolitischen Union erlebt – die die Ukraine unterstützt, der Aggression Russlands standhält, auf ein selbstbewusst agierendes China reagiert und in Partnerschaften investiert. Wir haben einen europäischen 'Green Deal', der das Herzstück unserer Wirtschaft und von beispielloser Ambition getragen ist. Wir haben den Weg für den digitalen Wandel geebnet und sind weltweit Vorreiter bei den Online-Rechten", so die Kommissionspräsidentin.

Dabei verwies von der Leyen auch auf den Wiederaufbaufonds "Next Generation EU", die Gesundheitsunion, die Strategien für mehr Unabhängigkeit in den Bereichen Energie, Chips und Rohstoffe und bahnbrechende Erfolge für die Gleichstellung der Geschlechter. Gemeinsam habe man gezeigt, was ein Europa, das kühn und mutig sei, alles schaffen könne.

Der europäische "Green Deal"

Der Sommer 2023 – der heißeste, der jemals in Europa verzeichnet wurde – habe die Dringlichkeit des "Green Deal" wieder in Erinnerung gerufen, so von der Leyen, die dabei auf die verheerenden Waldbrände und extremen Wetterereignisse, etwa in Griechenland, Spanien, Slowenien und Bulgarien, hinwies. "Dies ist die Realität eines Planeten, der kocht. Der europäische ´Green Deal´ wurde aus dieser Notwendigkeit heraus geboren, unseren Planeten zu schützen", beurteilte Kommissionspräsidentin von der Leyen die aktuelle Situation.

Zu Beginn ihres Mandats als Kommissionspräsidentin im Jahr 2019 habe die Kommission eine langfristige Richtung vorgegeben: mit dem Klimagesetz und dem Ziel, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Diese Agenda sei zu einer wirtschaftlichen Agenda weiterentwickelt worden.

Die EU möchte die Industrien in der nächsten Phase des europäischen "Green Deal" weiter unterstützen. Noch im September 2023 soll dafür eine Serie von Energiewende-Dialogen mit der Industrie beginnen. Es gehe darum, gezielt die verschiedenen Sektoren bei der Entwicklung eines Geschäftsmodells für die Dekarbonisierung zu unterstützen – ein entscheidender Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Vor diesem Hintergrund plant die Kommission ein Paket für die Windkraft in Europa und eine enge Zusammenarbeit mit der Industrie und den EU-Mitgliedstaaten. Von der Leyen betonte in diesem Zusammenhang: "Europa bleibt auf Kurs und bleibt ehrgeizig. Die Kommission macht sich für einen fairen und gerechten Übergang stark."

Ein Europa der Regionen und der biologischen Vielfalt

Zudem ging von der Leyen in ihren Ausführungen auf die kulturelle und biologische Vielfalt Europas ein. Das Weltnaturerbe Wattenmeer, die Ostsee als das größte Brackwassermeer der Welt, weiter südlich die europäischen Tiefebenen mit Mooren und Feuchtebenen seien wichtige Verbündete gegen das Fortschreiten des Klimawandels.

Zugleich sprach die Kommissionspräsidentin den Bäuerinnen und Bauern in Europa Anerkennung und Dank dafür aus, dass sie täglich für gesunde Lebensmittel sorgen würden. In diesem Zusammenhang kündigte von der Leyen einen strategischen Dialog zur Zukunft der Landwirtschaft in der EU an, da Europa Landwirtschaft und Naturschutz gleichermaßen brauche.

Große wirtschaftliche Herausforderungen

Ursula von der Leyen

Von der Leyen machte in ihrer Rede auch auf die 3 großen wirtschaftlichen Herausforderungen aufmerksam, vor denen die europäische Industrie künftig stehe: der Arbeits- und Fachkräftemangel, die Inflation und die Rahmenbedingungen für Unternehmen. All das stehe in Verbindung mit der Erwartung an die Unternehmen, bei der Umstellung auf saubere Technologien in Führung zu gehen.

Weiters führte die Kommissionspräsidentin aus, dass die erste europäische Kurzarbeitsregelung, das "Europäische Instrument zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage" (SURE, kurz für Englisch: "Support mitigating Unemployment Risks in Emergency") in Pandemiezeiten 40 Millionen Arbeitsplätze gerettet habe. Auch der Wiederaufbaufonds "Next Generation EU" zeige bereits Erfolge. Jetzt gehe es darum, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verbessern und den Fachkräftemangel anzugehen; die anhaltend hohe Inflation einzudämmen; den europäischen Unternehmen ihre Tätigkeit erleichtern, etwa durch eine Reduzierung der Meldepflichten um 25 Prozent. So betonte von der Leyen auch, dass die europäische Industriepolitik eine gemeinsame europäische Finanzierung erfordere. 

"Dies ist der Moment, um der jungen Generation zu zeigen, dass wir einen Kontinent gestalten können, wo sie sein können, wer sie wollen, wo sie lieben können, wen sie wollen, und wo sie sich die höchsten Ziele stecken können. Einen Kontinent, der mit der Natur versöhnt und bei der Entwicklung neuer Technologien führend ist. Einen Kontinent, der in Freiheit und Frieden geeint ist. Wieder einmal gilt – dies ist für Europa der Moment, sich dem Gebot der Stunde zu stellen."
Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission

Migration effizient und humanitär steuern

Von der Leyen verwies in ihrer Rede auch auf das vorgeschlagene Asyl- und Migrationspaket der EU. Nie sei die Einigung auf einen Kompromiss greifbarer gewesen als jetzt mit dem Anspruch, Migration effizient und humanitär zu steuern. Tag für Tag werden Menschen durch Konflikte, Klimawandel oder politische Instabilität aus ihrer Heimat vertrieben. "Ich war immer der festen Überzeugung, dass Migration gesteuert werden muss. Das erfordert allerdings Geduld. Langfristige Maßnahmen in Abstimmung mit unseren Partnern. Und vor allem Geschlossenheit innerhalb unserer Union. Und genau das ist der Geist des neuen Migrations- und Asylpakets. Als ich mein Amt antrat, schien kein möglicher Kompromiss in Sicht zu sein. Aber mit dem Pakt haben wir eine neue Balance gefunden. Zwischen dem Schutz der Grenzen und dem Schutz der Menschen. Zwischen Souveränität und Solidarität. Zwischen Sicherheit und Menschlichkeit," so die Kommissionspräsidentin.

Beistand für die Ukraine und Vision für eine erfolgreiche EU-Erweiterung

Des Weiteren bekräftigte von der Leyen, die Unterstützung der EU für die Ukraine. Sie kündigte an, dass sie der Europäischen Kommission vorschlagen werde, den vorübergehenden Schutz für die in die EU geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer zu verlängern. Die Zukunft der Ukraine sei in der EU. Gleiches gelte für den Westbalkan und die Republik Moldau –  auch für viele Menschen in Georgien sei die EU-Perspektive wichtig.

Für die Europäische Union selbst gehe es nun darum, eine Vision für eine erfolgreiche Erweiterung zu entwickeln: Eine Vision für eine vollendete Union für über 500 Millionen Menschen in einer freien und demokratischen Gemeinschaft, auf Grundlage von Rechtstaatlichkeit und Grundrechten.

Europaministerin Karoline Edtstadler pflichtet den Aussagen von der Leyens bei, die Erweiterung der EU nicht hinauszuzögern: "Selbstverständlich muss auch die EU institutionell ihre Hausaufgaben machen, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Ich stimme aber mit Kommissionspräsidentin von der Leyen überein, dass dies kein Grund ist die Erweiterung hinauszuzögern. Der Fokus auf den Westbalkan ist entscheidend. Nicht zuletzt auf österreichisches Drängen hin konnten wir die wiedergewonnene Dynamik im Erweiterungsprozess auch auf den Westbalkan übertragen. Nun gilt es, diese Dynamik aufrechtzuerhalten und weiter zu forcieren, ich erwarte mir hier einen intensiven Herbst. Ich freue mich, dass das von Außenminister Alexander Schallenberg und mir vorgeschlagene Konzept der ´Graduellen Integration´ immer mehr Unterstützung findet. Die EU muss dringend greifbare und glaubwürdige Fortschritte bei der Annäherung der Westbalkan-Staaten machen und ihre Versprechen einhalten."

Details zu den von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen neuen Initiativen

EU-Parlament während der Rede zur Union

Kommissionspräsidentin von der Leyen übermittelte am 13. September 2023 eine Absichtserklärung an die Präsidentin des Europäischen Parlaments Roberta Metsola, und den spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez, für den Vorsitz im Rat. Darin legt sie dar, welche Maßnahmen die Kommission in Form von Rechtsvorschriften und sonstigen Initiativen für das kommende Jahr plant.

  • Ein europäischer "Green Deal":
    • Paket für die Windkraft in Europa
    • Klimaziele für 2040
    • Initiative zur Resilienz der Wasserversorgung
  • Ein Europa für das digitale Zeitalter:
    • EU-Weltraumgesetz
    • Strategie für die wirtschaftliche Nutzung von Weltraumdaten
    • Initiative zur Öffnung europäischer Supercomputer-Kapazitäten für verantwortungsbewusste KI-Start-ups, die sich zu einer ethischen KI-Nutzung verpflichten
  • Eine Wirtschaft im Dienste der Menschen:
    • EU-Initiative zu Biotechnologie und -produktion
    • Folgemaßnahmen aus dem Gipfeltreffen in Val Duchesse, Belgien, mit den Sozialpartnern
    • Fortgeschrittene Werkstoffe für eine industrielle Führungsrolle
    • Initiative zur Regelung des Europäischen Betriebsrats
  • Ein stärkeres Europa in der Welt:
    • Stärkung der Partnerschaft mit Afrika
    • Europäische Strategie für die Verteidigungsindustrie
  • Förderung unserer europäischen Lebensweise:
    • Verlängerung des vorübergehenden Schutzes für Menschen, die aus der Ukraine fliehen
    • Aktionsplan zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels, Europäische Hafenallianz
    • Aktualisierung des Rechtsrahmens und stärkere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Schleuserkriminalität
    • Gemeinsamer europäischer Hochschulabschluss
  • Neuer Schwung für die Demokratie in Europa:
    • Mitteilung über Reformen im Vorfeld der Erweiterung und Überprüfung politischer Maßnahmen
    • Empfehlung der Kommission zu integrierten Kinderschutzsystemen
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Hintergrund: "State of the Union" (SOTEU)

Jedes Jahr im September hält die Präsidentin beziehungsweise der Präsident der Europäischen Kommission vor dem Europäischen Parlament eine Rede zur Lage der Union (auf Englisch: "State of the Union", kurz SOTEU). Darin werden die Erfolge des abgelaufenen Jahres bilanziert und die Prioritäten für das kommende Jahr dargelegt. Ferner wird darin erläutert, wie die Kommission prioritäre Themen angehen und die künftige Entwicklung der EU mitgestalten möchte. An die Rede schließt sich eine Aussprache im Plenum des Europäischen Parlaments an; sie bildet den Auftakt für den Dialog zwischen Europäischem Parlament und Rat zur Vorbereitung des Arbeitsprogramms der Kommission im darauffolgenden Jahr. 

Die Rede zur Lage der Union wurde im Jahr 2010 mit dem Vertrag von Lissabon ins Leben gerufen und wird jährlich gehalten; Ausnahmen bilden jene Jahre, in welchen die Wahl zum Europäischen Parlament stattfindet.

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