EU-Reaktion nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan

Virtuelles Sondertreffen der EU-Außenministerinnen und -minister – Evakuierungsbemühungen im Fokus – Sorge um Situation der Frauen und Mädchen vor Ort – Humanitäre Hilfe wird fortgesetzt 

Video-Konferenz zu Afghanistan

Bei einer Videokonferenz betonten die Außenministerinnen und -minister der 27 EU-Mitgliedstaaten am 17. August 2021, dass die sichere Evakuierung von EU-Bürgerinnen und ‑Bürgern sowie von afghanischen Ortskräften sichergestellt werden müsse, und forderten den Schutz des Lebens aller Menschen sowie die sofortige Wiederherstellung der Sicherheit und zivilen Ordnung. "Die Mitgliedstaaten unternehmen im Rahmen einer engen Koordinierung alle erdenklichen Anstrengungen, um deren Sicherheit zu gewährleisten, unter anderem durch die laufende Evakuierung der in Not befindlichen Ortskräfte und ihrer Familien. Die Europäische Union wird auch denjenigen Afghaninnen und Afghanen besondere Aufmerksamkeit schenken, deren Sicherheit aufgrund ihres auf Grundsätze gestützten Engagements für unsere gemeinsamen Werte nun gefährdet sein könnte", so die Außenministerinnen und -minister. "Die EU fordert die sofortige Beendigung aller Gewalt, die Wiederherstellung der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung sowie den Schutz und die Achtung des zivilen Lebens, der menschlichen Würde und des Eigentums in ganz Afghanistan. In diesem Zusammenhang ist die EU zutiefst über Berichte besorgt, wonach in Gebieten in ganz Afghanistan schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und -verstöße begangen wurden. Eine umfassende und alle Seiten einbeziehende politische Einigung und eine dauerhafte Lösung des Konflikts sollten nicht durch Gewalt, sondern durch konstruktive Verhandlungen auf der Grundlage von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Verfassungsordnung herbeigeführt werden."

Zudem erklärte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, dass rund 400 Visa für afghanische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von EU-Delegationen und EU-Missionen genehmigt worden seien. Man sei sich der schwierigen Lage in Afghanistan bewusst und unternehme alles, um diese Menschen sowie deren Familien außer Landes bringen zu können, betonte Borrell nach der Videokonferenz mit Blick auf die faktische Machtübernahme der Taliban. Dies gelte auch für weitere Menschen aus der Zivilgesellschaft wie Journalistinnen, Journalisten oder Intellektuelle.

In einem Statement am Vortag hatten bereits 25 EU-Staaten und mehr als 40 weitere Länder weltweit auf offene Grenzen und Ausreisemöglichkeiten in Afghanistan gepocht. "Afghanen und internationale Bürger, die das Land verlassen wollen, müssen dies tun dürfen; Straßen, Flughäfen und Grenzübergänge müssen offenbleiben", heißt es in dem am 16. August veröffentlichten Statement.

Weitere Ziele der EU-Bemühungen: Verhinderung massiver Migrationsbewegungen nach Europa – Fortsetzung der humanitären Hilfe

Ziel müsse es unter anderem sein, eine mögliche neue Migrationskatastrophe und eine humanitäre Krise zu verhindern, so der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik nach der Videokonferenz am 17. August: "Wir müssen sicherstellen, dass die neue politische Situation in Afghanistan nicht zu einer massiven Migrationsbewegung nach Europa führt." Zudem soll verhindert werden, dass Afghanistan erneut zu einem Rückzugsort für den internationalen Terrorismus werden könne. "Vor diesem Hintergrund wird die Zusammenarbeit der EU mit ihren Partnern in Zentralasien immer wichtiger werden", betonten die Außenministerinnen und -minister.

Um die Frage einer offiziellen Anerkennung der Taliban gehe es nicht, so Borrell im Pressegespräch nach der Videokonferenz. Die Außenministerinnen und -minister der EU erklären in ihrem Statement, dass die Zusammenarbeit mit einer künftigen afghanischen Regierung von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig sein werde. Konkret genannt werden dabei unter anderem eine "friedliche und alle Seiten einbeziehende Lösung" sowie die Achtung der Grundrechte der afghanischen Bevölkerung, einschließlich jene der Frauen, von jungen Menschen und Angehörigen von Minderheiten. Auch verweist die EU auf die Achtung der internationalen Verpflichtungen Afghanistans, die Verpflichtung zur Bekämpfung der Korruption und die Verhinderung der Nutzung des afghanischen Hoheitsgebiets durch terroristische Organisationen als Faktoren für eine mögliche künftige Zusammenarbeit.

Die EU sei der größte globale Spender für Afghanistan und werde auch künftig Menschen in Not helfen, betonte der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Janez Lenarčič, am 17. August 2021. Die (bedingungslose) humanitäre Hilfe werde weiterhin bedarfsorientiert umgesetzt, während die Voraussetzungen für die EU-Entwicklungszusammenarbeit erst klarzustellen seien. Den in Not befindlichen afghanischen Frauen, Männern und Kindern – einschließlich der zahlreichen Binnenvertriebenen – sei ein sicherer und ungehinderter Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewähren. Die EU werde auch die Nachbarländer Afghanistans bei der Bewältigung negativer Ausstrahlungseffekte unterstützen, die von einem zunehmenden Zustrom von Flüchtlingen sowie Migrantinnen und Migranten zu erwarten sind.

Sorge um Respekt der Grund- und Freiheitsrechte insbesondere von Frauen und Mädchen in Afghanistan

Mit zahlreichen internationalen Partnern wie den USA, dem Vereinigten Königreich und 20 weiteren Staaten – darunter Argentinien, Albanien, Chile, Senegal, Honduras oder der Schweiz – brachte die EU in einem Statement vom 18. August 2021 in einer gemeinsamen Erklärung ihre "tiefe Besorgnis" angesichts der Lage von afghanischen Frauen und Mädchen zum Ausdruck, insbesondere was deren Rechte auf Bildung Arbeit und Bewegungsfreiheit betrifft. "Wir fordern all jene, die in ganz Afghanistan Macht und Autorität innehaben, auf, den Schutz von Frauen und Mädchen zu gewährleisten. Afghanische Frauen und Mädchen haben – wie alle Menschen in Afghanistan – das Recht auf ein Leben in Sicherheit und Würde. Jede Form von Diskriminierung und Missbrauch sollte verhindert werden. Wir in der internationalen Gemeinschaft sind bereit, ihnen humanitäre Hilfe und Unterstützung zu leisten, um sicherzustellen, dass ihre Stimmen gehört werden können", heißt es in der Erklärung.

Frau in Afghanistan

Außenministerium unterstützt Österreicherinnen und Österreicher vor Ort

Oberste Priorität habe die Hilfe für die österreichischen Staatsbürgerinnen und -bürger vor Ort, betonte Außenminister Alexander Schallenberg bei einer Pressekonferenz am 17. August. "Wir sind mit den betroffenen Personen in Kontakt und bemühen uns, sie auf Evakuierungsflügen unserer internationalen Partner unterzubringen. Wir haben dazu auch ein ganz konkretes Hilfsangebot unserer deutschen Freunde." Zudem werde ein kleines Krisenteam des Außenministeriums nach Kabul aufbrechen, um direkt vor Ort in Afghanistan Unterstützung zu leisten.

Außenminister Schallenberg strich zudem hervor, dass aus österreichischer Sicht rasche humanitäre Hilfe vor Ort und die Unterstützung der Region, insbesondere der Nachbarländer Afghanistans sowie der Transitländer, von besonderer Bedeutung seien: "Ein Ziel eint uns alle in Europa: Wir dürfen die Fehler aus der Flüchtlingskrise von 2015 nicht wiederholen. Als Bundesregierung ergreifen wir die Initiative und stellen 3 Millionen Euro aus dem Auslandskatastrophenfonds für Afghanistan und die Region zur Verfügung." Mit den Geldern soll das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) flüchtende Menschen direkt in der Region versorgen. "Afghanistan darf nicht zu einem sicherheitspolitischen schwarzen Loch und zu einem Inkubator des internationalen Terrorismus werden", so der Außenminister. Auf EU-Ebene müsse gemeinsam mit internationalen Partnern alles getan werden, dass sich die Lage in und um Afghanistan stabilisiere.

"Gegenüber den Taliban braucht es eine klare Sprache: Der Respekt der Grund- und Freiheitsrechte aller Afghanen, insbesondere von Frauen, Mädchen und Minderheiten, sind für uns eine unabdingbare Bedingung – eine Partnerschaft funktioniert nur mit einem zurechenbaren Partner", betonte auch Außenminister Schallenberg.

Rat „Justiz und Inneres“ beriet zur Lage in Afghanistan

Die EU-Innenministerinnen und –minister berieten am 31. August 2021 in Brüssel über die Entwicklungen in Afghanistan, insbesondere im Hinblick auf mögliche Auswirkungen auf die Bereiche internationaler Schutz, Migration und Sicherheit. In einer gemeinsamen Erklärung betonten die die Ministerinnen und Minister, dass die Evakuierung der EU-Bürgerinnen und -Bürger und, soweit möglich, afghanischer Staatsangehöriger, die mit der EU und ihren Mitgliedstaaten zusammengearbeitet haben, und ihrer Familien vorrangig durchgeführt worden sei und fortgesetzt werden würde.

In der gemeinsamen Erklärung heißt es weiter, dass sich die EU auch weiterhin mit internationalen Partnern, insbesondere mit den Vereinten Nationen und ihren Organisationen, hinsichtlich der Stabilisierung der Region abstimmen wolle. Dabei soll auch sichergestellt werden, dass humanitäre Hilfe die bedürftigen Bevölkerungsgruppen erreicht. Die EU möchte zudem mit Drittstaaten, vor allem den Nachbar- und Transitländern zusammenarbeiten, die eine große Zahl von Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen, und diese Drittstaaten unterstützen. Hinsichtlich der Bekämpfung des internationalen Terrorismus einigten sich die EU-Innenministerinnen und -minister darauf, dass sichergestellt werden müsse, dass das Taliban-Regime alle Verbindungen zum Terrorismus kappe, damit Afghanistan nicht erneut zu einem Zufluchtsort für Terroristinnen und Terroristen oder organisierte kriminelle Gruppen werde.

Austausch der EU-Außenministerinnen und -minister zur Lage in Afghanistan bei "Gymnich"-Treffen in Slowenien 

Gymnich-Treffen am 2. September 2021

Eine weitere umfassende Diskussion zur Lage in Afghanistan fand anlässlich des vom slowenischen EU-Ratsvorsitz organisierten informellen Treffens der Außenministerinnen und Außenminister der 27 EU-Mitgliedstaaten (sogenanntes Gymnich-Treffen) am 2. und 3. September 2021 in Brdo pri Kranju, Slowenien, statt.

Im Mittelpunkt der Beratungen stand die humanitäre und politische Lage in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban. Dabei haben sich die EU-Außenministerinnen und -minister auf Bedingungen für eine beschränkte Zusammenarbeit mit den Taliban in Afghanistan verständigt. Demnach könnte es zu einem operativen Engagement kommen, wenn verschiedene Bedingungen seitens der Taliban erfüllt werden. Hierzu zählen die Zusage der Taliban, dass Afghanistan nicht zur Basis für Terrorismus für andere Länder werde, dass die Menschenrechte, insbesondere die Frauenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Pressefreiheit gewahrt würden, gefährdete Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft sowie Afghaninnen und Afghanen ausreisen dürften und der freie Zugang zu humanitäre Hilfe sichergestellt würde.

Der slowenische Außenminister Anže Logar erklärte dazu: "In der Diskussion über Afghanistan führte beruhend auf den Beschlüssen, die zuvor auf den außerordentlichen Treffen der Außenminister und Innenminister getroffen wurden, die Konvergenz der Standpunkte einen breiten Konsens herbei. Es besteht kein Zweifel, dass die Mitgliedstaaten mit einer Stimme sprechen möchten. Die einhellige Botschaft ist klar: Die Ereignisse, die wir in den Jahren 2015 und 2016 erlebt haben, dürfen nicht wiederholt werden."

Für Österreich nahm Außenminister Alexander Schallenberg an dem Treffen teil. Er betonte die Erwartungen gegenüber dem Taliban-Regime in den Bereichen der Grund- und Freiheitsrechte und der Reisefreiheit für die afghanische Bevölkerung. Im Vorfeld des Treffens erklärte Außenminister Schallenberg: "Ich erwarte mir, dass sich Europa nicht abwenden wird. Weder in Afghanistan noch in der gesamten Region. Ich glaube, dass hier von der EU nicht nur verstärktes humanitäres Engagement, sondern auch verstärktes politisches Engagement gefordert ist."

Der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, hob die Bedeutung des EU-Engagements in Afghanistan hervor. "Die Zukunft Afghanistans ist nach wie vor ein zentrales Thema für die EU. Die Union ist weiterhin entschlossen, die afghanische Bevölkerung zu unterstützen", so Borrell.

Die EU-Außenministerinnen und -minister betonten außerdem, dass die EU mit den Nachbarländern Afghanistans und anderen wichtigen internationalen Akteuren zusammenarbeiten müsse, um eine humanitäre Katastrophe in Afghanistan und eine mögliche Migrationswelle nach Europa zu verhindern.

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