EU-Kommission leitet rechtliche Schritte gegen Ungarn und Polen wegen Verletzung der Grundrechte von LGBTIQ-Personen ein

Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen, um die Grundrechte von LGBTIQ-Personen zu wahren – Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: "Europa wird es nie zulassen, dass Teile seiner Gesellschaft stigmatisiert werden"

Berlaymont Gebäude beleuchtet durch die Regenbogenflagge am Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie

Am 15. Juli 2021 hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen im Zusammenhang mit der Gleichberechtigung und dem Schutz der Grundrechte eingeleitet.

"Europa wird es nie zulassen, dass Teile seiner Gesellschaft stigmatisiert werden: wegen der Person, die sie lieben, wegen ihres Alters, wegen ihrer politischen Meinung oder wegen ihrer religiösen Überzeugungen", strich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hervor.

Ungarn: Einleitung eines Verfahrens im Zusammenhang mit dem Verbot von LGBTIQ-Inhalten für unter 18-Jährige sowie einem diskriminierenden Hinweis in einem Kinderbuch mit LGBTIQ-Inhalt

Im Falle von Ungarn geht es zum einen um ein am 23. Juni 2021 gebilligtes Gesetz, das den Zugang zu Inhalten, die sogenannte "von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweichende Identitäten, Geschlechtsumwandlungen oder Homosexualität" verbreiten oder darstellen, für Personen unter 18 Jahren beschränkt oder verbietet. Der Schutz Minderjähriger ist ein berechtigtes öffentliches Interesse, das die EU teilt und verfolgt. In diesem Fall konnte Ungarn jedoch nicht begründen, warum der Kontakt von Kindern mit LGBTIQ-Inhalten ihr Wohlergehen beeinträchtigen oder nicht dem Wohl des Kindes entsprechen würde. Die Kommission hat daher beschlossen, Ungarn ein Aufforderungsschreiben zu übermitteln, da sie der Auffassung ist, dass das Gesetz gegen eine Reihe von EU-Vorschriften verstößt:

  1. wurde gegen die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie) in Bezug auf die Normen für audiovisuelle Inhalte und die freie Bereitstellung grenzüberschreitender audiovisueller Mediendienste verstoßen, da Ungarn ungerechtfertigte Beschränkungen eingeführt hat, die Menschen aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung diskriminieren und darüber hinaus unverhältnismäßig sind.
  2. verstoßen einige der angefochtenen Bestimmungen gegen die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (insbesondere das Herkunftslandprinzip). Das Gesetz verbietet die Erbringung von Dienstleistungen, die unterschiedliche sexuelle Ausrichtungen für Minderjährige darstellen, selbst wenn diese Angebote aus anderen Mitgliedstaaten stammen.
  3. konnte Ungarn die Beschränkung grenzüberschreitender Dienste der Informationsgesellschaft nicht rechtfertigen.
  4. hat Ungarn der Kommission einige der angefochtenen Maßnahmen nicht im Voraus mitgeteilt, obwohl eine Verpflichtung dazu in der Transparenzrichtlinie für den Binnenmarkt enthalten ist.
  5. ist die Kommission der Auffassung, dass Ungarn gegen die im Vertrag verankerten Grundsätze des freien Dienstleistungsverkehrs (Artikel 56 AEUV) und des freien Warenverkehrs (Artikel 34 AEUV) verstoßen hat, indem es nicht nachgewiesen hat, dass die Beschränkungen hinreichend begründet, nichtdiskriminierend und verhältnismäßig sind.
  6. verstoßen einige der angefochtenen Bestimmungen gegen das in der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und in Artikel 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf Datenschutz.

Schließlich ist die Kommission der Auffassung, dass die ungarischen Bestimmungen in diesen Bereichen, die in den Anwendungsbereich des EU-Rechts fallen, auch gegen die Menschenwürde, das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf Informationsfreiheit, das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Nichtdiskriminierung verstoßen, die jeweils in Artikel 1, 7, 11 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind. Aufgrund der Schwere dieser Verstöße verletzen die angefochtenen Bestimmungen auch die in Artikel 2 EUV festgelegten Werte.

Zum anderen reagiert die Kommission auf einen verpflichtenden Hinweis, den ein ungarischer Herausgeber zwingend in ein Kinderbuch mit LGBTIQ-Inhalten aufnehmen musste: Am 19. Jänner 2021 hatte die ungarische Verbraucherschutzbehörde den Herausgeber eines Kinderbuchs, das LGBTIQ-Personen darstellt, verpflichtet, darin einen Hinweis aufzunehmen, dass das Buch "Verhaltensweisen, die von den traditionellen Geschlechterrollen abweichen", darstellt. Dies entspricht einer Beschränkung der in Artikel 11 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Nichtdiskriminierung und verletzt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken. Die EU-Kommission hat beschlossen, Ungarn ein Aufforderungsschreiben zu übermitteln, da sie der Auffassung ist, dass Ungarn durch die Verpflichtung zur Übermittlung von Informationen über die Abweichung von "traditionellen Geschlechterrollen" die Meinungsfreiheit von Autorinnen und Autoren sowie Buchverlegerinnen und Buchverlegern beschränkt und aus Gründen der sexuellen Ausrichtung in ungerechtfertigter Weise diskriminiert. Insbesondere konnte Ungarn weder die Beschränkung dieser Grundrechte begründen noch Gründe angeben, warum der Kontakt von Kindern mit LGBTIQ-Inhalten sich nachteilig auf ihr Wohlergehen auswirken oder nicht dem Wohl des Kindes entsprechen würde.

Polen: Einleitung eines Verfahrens im Zusammenhang mit "LGBT-freie Zonen"

Im Falle von Polen ist die EU-Kommission der Auffassung, dass die polnischen Behörden nicht vollständig und angemessen auf ihre Untersuchung in Bezug auf die Art und die Auswirkungen der sogenannten "LGBT-freien Zonen", die von mehreren polnischen Regionen und Gemeinden seit 2019 geschaffen worden sind, reagiert haben.

Die Kommission ist besorgt darüber, dass diese Erklärungen hinsichtlich der Nichtdiskriminierung aus Gründen der sexuellen Ausrichtung gegen EU-Recht verstoßen könnten. Es ist daher erforderlich, eine detaillierte Analyse der Vereinbarkeit der Erklärungen mit dem EU-Recht durchzuführen. Für diese Bewertung benötigt die Kommission angemessene und umfassende Informationen von den polnischen Behörden. Trotz einer klaren Aufforderung seitens der Kommission im Februar 2021 haben die polnischen Behörden die erbetenen Informationen bislang nicht vorgelegt und es offensichtlich versäumt, die meisten Anfragen der Kommission zu beantworten. Damit hindert Polen die EU-Kommission an der Ausübung der ihr durch die Verträge übertragenen Befugnisse und verstößt gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Artikel 4 Absatz 3 EUV. Daher hat die Kommission beschlossen, Polen ein Aufforderungsschreiben wegen mangelnder Zusammenarbeit zu übermitteln.

Die nächsten Schritte

Ungarn und Polen haben innerhalb von 2 Monaten Zeit, auf die von der Kommission geäußerten Argumente zu reagieren. Sollte dies nicht geschehen, könnte die EU-Kommission beschließen, an beide EU-Mitgliedstaaten eine begründete Stellungnahme zu übermitteln und sie in einem weiteren Schritt vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu verklagen.

Hintergrund: Gleichheit und Nichtdiskriminierung als zentrale Grundsätze der EU

Die EU-Verträge und die Charta der Grundrechte der EU sprechen in punkto Gleichheit und Rechtstaatlichkeit eine klare Sprache. Die Gleichheit und Achtung der Würde und der Menschenrechte sind Grundwerte der EU, die in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) verankert sind. Die EU ist bestrebt, kontinuierlich einen besseren Schutz für LGBTIQ-Personen zu gewährleisten und gegen Diskriminierung anzukämpfen, etwa durch legislative Entwicklungen, die Rechtsprechung und politische Initiativen. Am 12. November 2020 hat die EU-Kommission erstmals eine EU-Strategie zur Gleichstellung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, Transgender, nichtbinären, intersexuellen und "queeren" Personen (LGBTIQ) vorgestellt. Diese zielt unter anderem auf die Bekämpfung von Diskriminierung, Gewährleistung von Sicherheit, Aufbau inklusiver Gesellschaften und die Führungsrolle der EU bei der Forderung nach Gleichstellung von LGBTIQ-Personen weltweit ab.

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