Bundeskanzler Stocker: "Wir dürfen Intoleranz niemals akzeptieren, egal in welcher Gestalt sie sich zeigt"

Festakt zum Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus und an die Beendigung des Zweiten Weltkriegs in Europa

"Mit dem 8. Mai 1945 fand das dunkelste Kapitel der österreichischen Geschichte sein Ende. Dieser Tag war Voraussetzung für die Entstehung unserer freien und unabhängigen Zweiten Republik. Wir erinnern uns heute voller Respekt an den schwierigen Neuanfang unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, die in einem endlich befreiten, aber auch zerstörten und vierfach besetzten Land unter großen Widrigkeiten und persönlichen Entbehrungen unsere Demokratie und unsere Rechtsstaatlichkeit aufgebaut haben. Mit Mut und Entschlossenheit", sagte Bundeskanzler Christian Stocker bei seiner Rede anlässlich des Festakts zum Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus und an die Beendigung des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945.

Es sei schier unmöglich, passende Worte für die unsäglichen Gewaltverbrechen, für die Gräuel und für die Unmenschlichkeit der NS-Herrschaft zu finden. "Wir werden die Opfer dieser dunklen Jahre niemals vergessen. Über 65.000 österreichische Jüdinnen und Juden wurden im Holocaust ermordet."

Foto: Bundeskanzler Christian Stocker hält eine Rede beim Festakt zum Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus und an die Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa im Bundeskanzleramt

An Geschichte in all ihrer Widersprüchlichkeit erinnern

"Wir erinnern an die Roma und Sinti, an die politisch Verfolgten, an Menschen mit Behinderungen, an Homosexuelle, und an alle, die durch das NS-Regime verfolgt, entrechtet, vertrieben, gequält und getötet wurden. Wir gedenken der Hunderttausenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die unter unmenschlichen Bedingungen ausgebeutet wurden – viele von ihnen haben diese Zeit nicht überlebt. Wir erinnern an die zivilen Opfer des Krieges in unserem Land: Männer, Frauen und Kinder, die durch Kampfhandlungen und Bombenangriffe ums Leben kamen. Wir gedenken jenen, die sich dem Kriegsdienst für Hitlerdeutschland verweigerten oder später desertierten und dafür mit ihrem Leben bezahlten", so der Bundeskanzler.

Darüber hinaus erinnere man auch an die vielen Österreicher, die als Soldaten im Zweiten Weltkrieg gefallen sind. Auch sie seien Teil der Geschichte. "Es ist unsere Pflicht, sich an die Geschichte in all ihrer Widersprüchlichkeit zu erinnern." Es gehe nicht darum, Schuld zu relativieren, aber man müsse das gesamte Ausmaß der Verbrechen begreifen, die im Namen des Nationalsozialismus begangen worden sind.

"Unser Dank und Respekt gilt all jenen, die für die Befreiung Österreichs gekämpft haben, den Widerstandskämpferinnen und -kämpfern und allen, die sich der NS-Diktatur widersetzt haben", betonte Stocker.

"Aus der Erinnerung erwächst Verantwortung"

"Aus der Erinnerung erwächst Verantwortung", so der Kanzler. Lange Zeit habe sich Österreich ausschließlich als Opfer der Nationalsozialisten gesehen. Zu lange wollte man nicht sehen, was unübersehbar war: Denn viel zu viele seien im März 1938 jubelnd am Heldenplatz gestanden und hätten zugeschaut und mitgemacht, als Mitmenschen erniedrigt, vertrieben und ermordet worden seien. "Aber unsere Politik, ja wir alle haben – wenn auch spät – aus der Geschichte gelernt. Heute bekennen wir uns vollumfänglich zu unserer Verantwortung. Diese Verantwortung bedeutet, uns offen und unvoreingenommen allen Kapiteln unserer Geschichte zu stellen – den hellen, aber auch den dunklen."

Das "Nie wieder" müsse für Österreich mehr sein muss als nur eine Floskel. Es sei Warnung und Auftrag zugleich. Gerade jetzt, wo sowohl in Österreich als auch weltweit ein massiver Anstieg an antisemitischen Vorfällen zu verzeichnen sei, so Christian Stocker in seiner Ansprache, der erklärte: "Dagegen muss, wo immer es passiert, überall aufgestanden werden. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn sich Jüdinnen und Juden in Österreich und darüber hinaus nicht mehr sicher fühlen."

"Wir müssen die Demokratie, die Freiheit und den Rechtsstaat schätzen, hüten und verteidigen"

Der 8. Mai 1945 sei eine entscheidende Zäsur in der Geschichte Österreichs gewesen. "Die Entwicklungen von damals zeigen eindrücklich, dass unsere Demokratie, unsere Freiheit und unser Rechtsstaat keine Selbstverständlichkeit sind. Im Gegenteil: Sie sind ein ebenso wertvolles wie zerbrechliches Gut, ein Privileg, das wir schätzen, hüten und verteidigen müssen", denn autoritäre Ideologien, Hass und Ausgrenzung hätten einst ein viel zu leichtes Spiel gehabt, als zu wenige den Mut hatten, dagegen aufzustehen.

"Erinnern wir uns aber auch daran, dass viele Österreicherinnen und Österreicher aus allen weltanschaulichen Richtungen entschlossen und gemeinsam wieder Mut gefasst haben, neu anzufangen, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und diese Republik gemeinsam zu einer Erfolgsgeschichte zu machen."

Herausforderungen können nur gemeinsam und mit Optimismus und Zuversicht gelöst werden

Auch heute könnten die Herausforderungen, denen man gegenüberstehe, nur gemeinsam gelöst werden, so der Bundeskanzler. 

"Unser Europa, unsere Europäische Union, ist ein einzigartiges Friedensprojekt – ein Ergebnis jener Lehren, die aus 2 verheerenden Weltkriegen gezogen wurden. Mit großer Demut und mit Respekt blicke ich auf meine Amtsvorgänger, die im Laufe der Jahrzehnte in der verantwortungsvollen Rolle des Bundeskanzlers und der Bundeskanzlerin die Werte unserer liberalen Demokratie gestärkt und verteidigt haben. Damit haben sie mitgeholfen, Österreich zu dem zu machen, was es heute ist: ein pro-europäisches Land mit höchsten Standards in Bezug auf Grund- und Freiheitsrechte, ein Land, in dem das Völkerrecht eingehalten und Verträge respektiert werden und ein Land mit einer engagierten Zivilgesellschaft und einer vielfältigen Kunst-, Kultur- und Medienlandschaft", sagte Christian Stocker.

"Mit voller Überzeugung zähle ich mich zu den Österreicherinnen und Österreichern, die trotz der Herausforderungen unserer Zeit ganz nach Karl Popper die Zuversicht und den Optimismus zur Pflicht erklären. Aber was bedeutet das ganz praktisch? Österreich ist ein wunderschönes, lebenswertes und starkes Land. Es liegt an uns allen, dass das auch so bleibt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir alle Voraussetzungen dafür haben, um die Herausforderungen und die Probleme, die vor uns liegen, auch bewältigen können."

Aufeinander zugehen, einander zuhören, einander akzeptieren

Der Kanzler bat abschließend: "Gehen wir aufeinander zu, hören wir einander zu und akzeptieren wir uns in unserer Verschiedenartigkeit. Bemühen wir uns um Sorgfalt in der Sprache und um Kompromissfähigkeit als eine österreichische Tugend."

"Wir dürfen Intoleranz niemals akzeptieren, egal in welcher Gestalt sie sich zeigt." Das sei die Verantwortung, die sich aus der Geschichte ergebe. Sie sei eine, die jede und jeder leben kann – ja sogar müsse, so der Bundeskanzler.

"Nehmen wir daher diese Verantwortung wahr und die Herausforderungen der Gegenwart an. Hüten und verteidigen wir unsere demokratische Republik wie einen Schatz, der uns anvertraut wurde. Stehen wir füreinander ein und stärken wir das, was uns verbindet. Das ist unser Auftrag aus der Vergangenheit – und unser Versprechen für die Zukunft. Es ist ein Versprechen an unsere Kinder und Enkelkinder. Und es ist ein Versprechen an Österreich", so Bundeskanzler Stocker abschließend.

Bilder von der Gedenkfeier sind über das Fotoservice des Bundeskanzleramts kostenfrei abrufbar.

Rede von Bundeskanzler Christian Stocker zum Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus und an die Beendigung des zweiten Weltkrieges in Europa