"Europa als Aufgabe": Tschechien übernimmt von Frankreich Vorsitz im Rat der EU

Folgen des Krieges in der Ukraine dominieren tschechischen EU-Ratsvorsitz – Energieversorgungssicherheit, Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten Europas und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit im Fokus

Logo Tschechischer EU-Ratsvorsitz 2022

Mit 1. Juli 2022 hat die Tschechische Republik den halbjährlich rotierenden EU-Ratsvorsitz von Frankreich übernommen – und dieser steht ganz im Zeichen des Krieges in der Ukraine und dessen Folgen. Gemäß dem Motto "Europa als Aufgabe" (Englisch: "Europe as a Task: Rethink, Rebuild, Repower") möchte Tschechien – das den Ratsvorsitz nach 2009 zum zweiten Mal innehat – die nächsten 6 Monate nützen, um vor allem die Aspekte der Energieversorgung sowie der geopolitischen Auswirkungen des Krieges in den Vordergrund zu rücken. Unter dem ersten tschechischen EU-Ratsvorsitz in der ersten Jahreshälfte 2009 – nur 5 Jahre nach dem Beitritt Tschechiens zur EU 2004 – war die Östliche Partnerschaft der EU ins Leben gerufen worden.

Das von Václav Havel inspirierte Motto des EU-Ratsvorsitzes 2022 soll jenes neue Kapitel in der europäischen Geschichte symbolisieren, welches die EU durch die russische Invasion in die Ukraine im Februar 2022 aufschlagen musste. Weitere Themen sind insbesondere die Energieversorgungssicherheit, die Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten Europas und Cyber-Sicherheit sowie die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit und institutionelle Resilienz der EU. Die Prioritäten sowie das Logo und Motto für den tschechischen EU-Ratsvorsitz waren am 15. Juni 2022 bei einer Pressekonferenz von Ministerpräsident Petr Fiala vorgestellt worden. In diesem Rahmen hatte Fiala betont: "Europa ist nicht nur ein Name für den Kontinent, auf dem wir leben. Es ist in erster Linie eine Sammlung von Prinzipien und Werten, die wir gemeinsam pflegen und schätzen. Die russische Invasion der Ukraine hat uns gezeigt, dass unsere Freiheit und Sicherheit heute genauso bedroht sind wie in der Vergangenheit. Der Kampf um die Freiheit endet nie." Weiters hatte der tschechische Ministerpräsident unterstrichen: "Europa steht derzeit vor vielen Problemen und Herausforderungen, aber wenn wir mit Einigkeit und Entschlossenheit handeln, werden wir stärker und widerstandsfähiger aus diesen Krisen hervorgehen."

Pressekonferenz des Ministerpräsidenten der Republik Tschechien Petr Fiala

Tschechisches Ratsvorsitz-Programm 2022 mit 5 Prioritäten

Die Prioritäten des tschechischen EU-Ratsvorsitzes stehen unter dem Motto "Europa als Aufgabe" und verfolgen als Ziel die Stärkung der gemeinsamen Freiheit, der Verantwortung, der Sicherheit und des Wohlstands. Im offiziellen Programm sind die folgenden 5, eng miteinander verbundenen Schwerpunktbereiche definiert:

  • Bewältigung der Flüchtlingskrise und der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg: Unterstützung der Bemühungen der EU für die Ukraine; Konzentration auf den flexiblen Transfer von Mitteln und die Schaffung von Strukturen, um die am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten, Organisationen und den zivilen Sektor zu unterstützen; Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg sowie die Sicherung der dafür erforderlichen Finanzmittel;
  • Sicherheit der Energieversorgung: Fokus auf Fragen der Energieversorgungssicherheit der EU sowie auf die Umsetzung von "REPowerEU", Arbeiten an der Umsetzung der Regulierung der Gasreserven, Befassung mit Energieeffizienz und Nutzung erneuerbarer Energien;
  • Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten Europas und der Sicherheit im Cyberspace: Resilienz gegen Desinformation und strategische Kommunikation auf EU-Ebene; Unterstützung zentraler Themen des "Strategischen Kompass"; Konzentration auf Zusammenarbeit und Investitionen zur Verringerung der technologischen Abhängigkeit sowie Stärkung der damit verbundenen Kapazitäten in der EU; Befassung mit Cyber-Bedrohungen und dem geopolitischen Kontext neuer Technologien (und Weltraum); rasche Entwicklung der "Hybrid Toolbox";
  • Strategische Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschaft: gezielte Unterstützung der technologischen Wettbewerbsfähigkeit auf der Grundlage eigener Produktionskapazitäten sowie die Vertiefung des Freihandels mit demokratischen Nationen in der Welt; Verfügbarkeit von strategischen Rohstoffen und Komponenten für europäische Unternehmen mit besonderer Konzentration auf die Sicherheit der IT-Lieferketten; Beschleunigung von Digitalisierung und Automatisierung der Industrie; Stärkung der Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit durch die Umsetzung des "grünen" und digitalen Wandels im Einklang mit der Kohäsionspolitik; Vertiefung des Binnenmarktes vor allem im Bereich der Dienstleistungen und der digitalen Wirtschaft;
  • Widerstandsfähigkeit demokratischer Institutionen: Nutzung der Beiträge zur "Konferenz zur Zukunft Europas"; Verbesserung des Dialogs mit jungen Menschen und Förderung ihrer Beteiligung an politischen Prozessen; Bewahrung und Stärkung der Freiheiten und europäische Werte; Stärkung der Achtung der Grundrechte und Freiheiten im digitalen Umfeld; Umsetzung des Europäischen Aktionsplans für Menschenrechte und Demokratie; Stärkung der Kapazitäten zur Unterstützung der Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien.

Über 400 Veranstaltungen geplant – Logo und Motto sollen symbolisch die Aufgaben Europas zum Ausdruck bringen

Neben den formellen Ratstagungen plant der Ratsvorsitz – abhängig von der Covid-19-Situation – zahlreiche informelle Tagungen auf Ebene der Ministerinnen und Minister in Tschechien. Geplant ist auch ein EU-Gipfeltreffen mit den Vereinigten Staaten von Amerika in Prag. Während der 6 Monate des Ratsvorsitzes soll zudem ein hochrangiges Treffen mit den Westbalkan-Staaten auf der Agenda stehen. Insgesamt sollen in Tschechien von 1. Juli bis 31. Dezember 2022 über 400 politische Veranstaltungen stattfinden – begleitet von einem umfangreichen Kulturprogramm an verschiedenen Orten in Tschechien, in Brüssel sowie weiteren (EU-)Ländern.

Das Logo des tschechischen Ratsvorsitzes – 27 grafische Elemente in Form einer Kompassnadel, die auf den Farben der Mitgliedstaat-Flaggen basieren – soll die Vielfalt, gleichzeitig aber auch die Einigkeit unter den 27 EU-Mitgliedstaaten repräsentieren. Die visuelle Identität stellt eine Weiterentwicklung jenes Logos dar, das für den ersten tschechischen EU-Ratsvorsitz im Jahr 2009 entworfen worden war.

Logo des Tschechischen EU-Ratsvorsitzes 2022 mit Prag im Hintergrund

Das Motto "Europa als Aufgabe" geht auf eine Rede des früheren tschechoslowakisch/tschechischen Präsidenten Václav Havel zurück, die er im Jahr 1996 anlässlich der Verleihung des Karlspreises in Aachen hielt. Damals hatte Havel betont, dass die Europäerinnen und Europäer Verantwortung für globale ökologische, soziale und wirtschaftliche Herausforderungen übernehmen müssten. "Europa als Aufgabe" sei "nicht nur als Gelegenheit zum gemeinsamen Nachdenken, sondern vor allem als Aufforderung, Verantwortung zu übernehmen und entschlossen auf der Grundlage der Werte handeln, die uns unser Gewissen auferlegt" zu verstehen, erläutert der tschechische EU-Ratsvorsitz.

Die Invasion der Ukraine durch die Russische Föderation und die völlig neue geopolitische Situation in Europa habe gezeigt, so der tschechische EU-Ratsvorsitz, dass die Europäerinnen und Europäer angesichts einer durch eine externe Bedrohung ausgelösten Krise in der Lage seien, sehr schnell, effektiv und vereint zu handeln. Dennoch sei die europäische Einheit nicht eine "autoritäre Einstimmigkeit", sondern eine Einheit in der Vielfalt einer mehrstimmigen Debatte, die jedoch auf gemeinsamen europäischen Werten basiert, betont der aktuelle Ratsvorsitz: "Unsere Kultur des politischen Dialogs und der Konsensbildung, die wir seit Jahrzehnten pflegen, erweist sich als Stärke und nicht als Schwäche des europäischen Projekts. Das übergeordnete Ziel des tschechischen Ratsvorsitzes ist es, so weit wie möglich zur Schaffung der Voraussetzungen für die Sicherheit und den Wohlstand der EU im Rahmen der europäischen Werte Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Umweltverantwortung beizutragen." Die EU stehe vor einer dreifachen Herausforderung: "Falls wir in diesem historischen Moment bestehen wollen, ist es unsere Aufgabe, Europa neu zu überdenken, neu aufzubauen und zu stärken." (Englisch: "Europe as a Task: Rethink, Rebuild, Repower").

Enge Zusammenarbeit der "Trio-Präsidentschaft" aus Frankreich, Tschechien und Schweden

Tschechien bildet gemeinsam mit Frankreich (Ratsvorsitz: erstes Halbjahr 2022) und Schweden (Ratsvorsitz: erstes Halbjahr 2023) eine "Trio-Ratspräsidentschaft". Diese 3 Staaten haben ein "Achtzehnmonatsprogramm" mit gemeinsamen Schwerpunkten für den Zeitraum 1. Jänner 2022 bis 30. Juni 2023 festgelegt. Das 18-monatige EU-Programm dieser Trio-Präsidentschaft orientiert sich an der Strategischen Agenda 2019-2024. Dabei steht die Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Krise, ausgelöst durch die Covid-19-Pandemie, im Vordergrund. Als Ziele angeführt werden die Erholung durch Umsetzung des EU-Aufbauplans, die Revitalisierung des Binnenmarktes unter Förderung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Stärkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Der Fokus soll auch weiterhin auf der "grünen" und digitalen Transformation liegen. Im außenpolitischen Bereich liegt der Schwerpunkt auf einem global ausgerichteten Europa, das eine international führende Rolle einnimmt, den Multilateralismus fördert, neue Beziehungen mit seinen Partnern eingeht und eine den 27 Mitgliedstaaten gemeinsame Sichtweise im Hinblick auf strategische Bedrohungen vertritt. Das Programm der Trio-Ratspräsidentschaft war vom "Rat Allgemeine Angelegenheiten" am 14. Dezember 2021 genehmigt worden.

Hintergrund: Der Vorsitz im Rat der EU

Der Vorsitz im Rat der EU rotiert im Turnusprinzip zwischen den 27 EU-Mitgliedstaaten. Alle 6 Monate findet ein Wechsel der Ratspräsidentschaft zwischen den EU-Mitgliedsländern gemäß einer festgelegten Reihenfolge – die bereits bis zum Jahr 2030 definiert ist – statt. Der Vorsitz leitet die Sitzungen und Tagungen der verschiedenen Ratsformationen (mit Ausnahme des Rates "Auswärtige Angelegenheiten") sowie der Vorbereitungsgremien des Rates und trägt damit Sorge für die Kontinuität der Arbeit der EU. Zudem vertritt der Vorsitz den Rat gegenüber den anderen EU-Organen (insbesondere gegenüber Kommission und Europäischem Parlament).

Mit dem Vertrag von Lissabon wurde im Jahr 2009 der "Dreiervorsitz" eingeführt, bei dessen Rahmen jene Mitgliedstaaten, welche den Vorsitz des Rates in 18 Monaten innehaben, in Dreiergruppen zusammenarbeiten, Ziele formulieren und ein gemeinsames Programm ("Achtzehnmonatsprogramm") erarbeiten.

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