Thema 5 – Recht – EDV – bibliothekarische Expertise: Zur Vorreiterrolle der Administrativen Bibliothek
Gestützt auf die Empfehlung des Europarates beginnt die Administrative Bibliothek 1969 gemeinsam mit dem Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt mit der Entwicklung einer zentralen Datenbank für juristische Informationen unter Heranziehung der elektronischen Datenverarbeitung.
Präsident: Anfrage 4: Herr Abgeordneter Dr. Pelikan (ÖVP) an den Herrn Bundeskanzler
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Was geschieht im Bundeskanzleramt mit den Ergebnissen des Millionenprojektes "Wiener System für die Elektronische Dokumentation"?
Präsident: Bitte, Herr Bundeskanzler.
Bundeskanzler Dr. Kreisky: Herr Abgeordneter Dr. Pelikan! Das EDV-Versuchsprojekt Verfassungsrecht ist von der Republik Osterreich, das heißt im Bundeskanzleramt mit Unterstützung der Firma IBM-Österreich, bei der Administrativen Bibliothek und Österreichischen Rechtsdokumentation im Bundeskanzleramt unter regelmäßiger Mitwirkung des Verfassungsdienstes in der Zeit vom 15.11.1970 bis 15.11.1972 durchgeführt worden. Die Zielsetzungen dieses Projektes waren einerseits die Prüfung der Möglichkeiten des Einsatzes von Elektronischen Datenverarbeitungsanlagen für die Speicherung und das Wiederauffinden von Rechtsstoff und andererseits die Gewinnung von Erfahrungswerten für die Errichtung von maschinellen Dokumentationssystemen der Gesellschaftswissenschaften und der gesellschaftlichen Praxis.
Präsident: Zusatzfrage. Bitte.
Abgeordneter Dr. Pelikan: Herr Bundeskanzler! Ich glaube, alle, die an der Präsentation dieses Versuchsprojektes hier im Hause teilgenommen haben - diese Präsentation hat vor einigen Wochen stattgefunden -, waren von der Arbeit, die hier geleistet wurde, sehr beeindruckt. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang erhebt, lautet: Wie wird es weitergehen? Wie ist die Fortsetzung, oder ist überhaupt eine Fortsetzung dieses Versuchsprojektes geplant? Nach meinem Wissen haben Sie, Herr Bundeskanzler, bereits den Auftrag gegeben, dieses Projekt auch auf andere Rechtsbereiche auszudehnen und fortzusetzen. Es ist aber diesbezüglich, soweit ich informiert bin, noch nichts geschehen. Herr Bundeskanzler! Ich möchte daher die konkrete Frage an Sie richten: Ist die Fortsetzung dieses Projektes und die Ausdehnung auf andere Rechtsgebiete geplant oder nicht?
Präsident: Herr Bundeskanzler.
Bundeskanzler Dr. Kreisky: Herr Abgeordneter! Die Koordinierungsstelle für die Dokumentation im Bereich des Bundes im Präsidium des Bundeskanzleramtes ist derzeit beauftragt, die Betriebsfähigkeit und Vollständigkeit der von der genannten Firma nach Beendigung der Benützervorführungen am 11. Dezember 1972 dem Bundeskanzleramt übergebenen Programme zu überprüfen. Nach Abschluß dieser Überprüfung - das wird voraussichtlich am 9. April sein - steht das "Wiener System" allen Bundesdienststellen kostenlos zur Einrichtung von maschinellen Dokumentations- und Informationssystemen zur Verfügung.
Präsident: Eine weitere Frage. Bitte.
Abgeordneter Dr. Pelikan: Herr Bundeskanzler! Ich danke für diese Beantwortung. Meine Frage zielte allerdings in eine andere Richtung. Ich habe zur Kenntnis genommen, daß dieses "Wiener System" allen Bundesdienststellen zur Verfügung stehen wird. Ich wollte aber wissen, ob konkret die Ausdehnung dieses Systems und die Fortführung auf andere Rechts- und Informationsbereiche geplant ist. Da Sie aber durch die Beantwortung dieser Frage meine zweite Frage gewissermaßen vorweggenommen haben - ich wollte nämlich die Frage stellen, wer den unmittelbaren Zugriff zu diesen angesammelten Daten haben wird -, möchte ich jetzt konkret die Frage stellen: Wird die Legislative in Zukunft bei Daten, die in der Hand der Vollziehung, also im konkreten Fall des Bundeskanzleramtes, gespeichert sind, einen unmittelbaren Zugriff bekommen oder nicht?
Präsident: Herr Kanzler.
Bundeskanzler Dr. Kreisky: Grundsätzlich bin ich der Auffassung, daß das sogenannte Wiener System an sich auch für die Einrichtung eines parlamentarischen Informationssystems geeignet ist. Ihre Frage geht aber weit darüber hinaus. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, fragen Sie, ob das dort aufgespeicherte Material auch anderen als Bundesdienststellen zur Verfügung stehen wird. Das ist eine Frage, von der ich glaube, daß sie gesetzlich geprüft werden muß. Grundsätzlich sollte man im Hinblick auf die Kosten, die Installation und all das, was damit zusammenhängt, einen möglichst umfassenden Informationsfluß gewährleisten. Das hängt aber in sehr hohem Maße davon ab, zu welchen gesetzlichen Beschränkungen und Einschränkungen die Bundesdienststellen verpflichtet sind. Ich werde aber jedenfalls auch auf diesen Umstand hinweisen.
[Quelle: Parlament: Stenographisches Protokoll der 66. Sitzung des Nationalrats vom 20. März 1973 (PDF), Seite 7-8.]
Neue Wege der juristischen Information
Aufbauend auf der Zeitschrift "Österreichische Rechtsdokumentation", seit Jänner 1969 herausgegeben von Otto Simmler, dem neuen Leiter der Administrativen Bibliothek, startet ein zukunftweisendes Pilotprojekt.
In interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Juristinnen und Juristen des Verfassungsdienstes, Bibliothekarinnen und Bibliothekaren der Administrativen Bibliothek und IT-Spezialisten werden Bundesverfassungsgesetze, Novellen, Nebengesetze und Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes seit 1960 und die verfassungsrechtliche Literatur aus den Jahren 1969 und 1970 in das Versuchsprojekt eingepflegt.
Auf Magnetbandschreibmaschinen werden in der Bibliothek die schwer lesbaren Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes abgeschrieben, korrigiert und die Bänder an IBM übergeben. Die Auswertung der Entscheidungen wird von 15 Fachjuristinnen und Fachjuristen auf Werkvertragsbasis vorgenommen. Sie gliedern die Entscheidungen in thematische Einheiten, streichen unwichtige Textstellen und vergeben Deskriptoren und Annotationen. Dann werden die Deskriptoren zu einem Thesaurus strukturiert, kategorisiert und abfragbar gemacht.
"Gerichtsurteile durch Computer!"
Eine österreichische Tageszeitung schraubt im Mai 1971 die Erwartungen an das Versuchsprojekt sehr hoch. Diese können allerdings nicht erfüllt werden. Das Projekt ist viel zu personal- und kostenintensiv. Obwohl technisch machbar und vom Ergebnis her auch überzeugend, steht der Aufwand in keinem Verhältnis zum Arbeitseinsatz. Das Versuchsprojekt wird am 15. November 1972 abgeschlossen und nicht fortgesetzt.
"Gerichtsurteile durch Computer! ...schon in wenigen Jahren sollen Gesetzesbrecher in Österreich indirekt von einem Computer verurteilt werden! Spätestens in 5 bis 6 Jahren werden österreichische Richter vor schwierigen Entscheidungen den Computer zu Rate ziehen!"
Schlagzeile "Kurier" am 1.5.1971
Das EDV-Projekt hat IBM Millionen (Schilling) gekostet. IBM beziffert die Kosten mit etwa 10 Personenjahre, die Rechenzeiten noch nicht eingerechnet. Die Ergebnisse liegen weit über dem internationalen Niveau und finden über die österreichischen Grenzen hinaus Anerkennung. Mit dem Projekt gelingt es jedoch, ein grundlegendes System für die Erfassung des gesamten Rechtswissens zu schaffen.
Das Wiener System öffnet das Tor in die Zukunft
Das Pilotprojekt liefert wichtige Erkenntnisse, die 10 Jahre später in die Umsetzung des Rechtsinformationssystems des Bundes (RIS) fließen. Um Dokumente nicht im Nachhinein ins System einpflegen zu müssen, wird nun früher angesetzt, unmittelbar beim Rechtserzeugungsprozess.
Das RIS ist eine im Internet frei zugängliche Datenbank des österreichischen Rechtswesens. Die Datenbank besteht seit 1986 und kann seit Juni 1997 von der Öffentlichkeit kostenlos genutzt werden.
auszugweise illustriert aus der Präsentation "Das RIS im Wandel der Zeit" von Dr. Helmut Weichsel am 24. Februar 2022.
Das RIS wird seit Beginn regelmäßig um Funktionen zur Einbindung diverser Rechtsdatenbestände aus Bund, Ländern, Bezirken und Gemeinden sowie Judikatur, Kundmachungen, Erlässe und vieles mehr aus den Rechtserzeugungsprozessen erweitert. Es umfasst 2022 bereits rund 2 Millionen Dokumente und weist insgesamt über 5 Milliarden Dokumentzugriffe auf. Ein umfassender Relaunch ist für 2026 geplant.