EU-Sondertagung am 1. und 2. Oktober 2020: Sanktionsdrohungen gegen die Türkei, Sanktionen gegen Weißrussland

Am 1. und 2. Oktober 2020 nahm Bundeskanzler Sebastian Kurz an einer Sondertagung der 27 EU-Staats- und -Regierungschefs in Brüssel teil. Auf der Tagesordnung standen aktuelle Themen der Außenpolitik sowie der Binnenmarkt, die Industriepolitik, der digitale Wandel und Covid-19.

Seit dem Ausbruch der Covid-19-Krise haben sich die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedsländer am 1. und 2. Oktober 2020 zum zweiten Mal physisch in Brüssel getroffen. Am ersten Tag der Sondertagung des Europäischen Rates kamen sie zusammen, um über aktuelle Themen der Außenpolitik, wie die Lage im östlichen Mittelmeerraum, die Beziehungen zu China, die Lage in Weißrussland, den Bergkarabach-Konflikt und die Vergiftung von Alexei Nawalny zu diskutieren. Am zweiten Tag standen der Binnenmarkt, die Industriepolitik und der digitale Wandel, sowie Covid-19 auf der Tagesordnung.

"Wir haben eine Agenda, die auf Ebene des Europäischen Rates politisch intensiv ist und dieses Treffen war eine weitere Gelegenheit, um das, was ich als ´europäische Magie´ bezeichne, zum Funktionieren zu bringen. Die Themen sind schwierig, die Themen sind komplex, sie sind strategisch. Aber dieser Wunsch nach Dialog, dieser Wunsch nach Debatte, um den Dingen auf den Grund zu gehen, ermöglicht es uns, voranzukommen, Fortschritte zu erzielen. Auf jeden Fall möchte ich diesen europäischen Ehrgeiz so sehen", so Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, nach dem Gipfel.

Östlicher Mittelmeerraum: Sanktionsdrohungen gegen die Türkei als Zeichen der Solidarität gegenüber Griechenland und Zypern

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Der Europäische Rat betonte seine "grenzenlose Solidarität" mit Griechenland und Zypern, deren Hoheitsrechte und Souveränität geachtet werden müssten. Die EU möchte ein stabiles und sicheres Umfeld im östlichen Mittelmeerraum und bezeugte Interesse an der Entwicklung einer kooperativen und für beide Seiten nutzbringenden Beziehung zur Türkei.

Die Staats- und Regierungschefs verurteilten die Verstöße gegen die Hoheitsrechte der Republik Zypern und erwarten von der Türkei, einen Dialog mit Zypern zu führen. Der Europäische Rat ist zudem übereingekommen, eine positiv politische EU-Türkei-Agenda zu entwickeln, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Bemühungen zur Beendigung der illegalen Aktivitäten gegenüber Griechenland und Zypern weitergeführt würden. Die EU würde alle ihr zur Verfügungen stehenden Instrumente und Optionen nutzen, um ihre Interessen und die Interessen ihrer Mitgliedstaaten zu verteidigen, sollten erneute einseitige Maßnahmen oder Provokationen, die gegen das Völkerrecht verstoßen, auftreten, so die EU-Staats- und -Regierungschefs.

Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz äußerte sich erfreut über die Einigung des Europäischen Rates bzw. "die klare Sanktionsdrohung gegenüber der Türkei, sollte diese weiterhin das Völkerrecht verletzen". Dies sei ein "wichtiges Zeichen der Solidarität gegenüber Griechenland und Zypern". "Wir dürfen uns von der Türkei nicht erpressen lassen", so der Bundeskanzler weiter.

Spätestens bei der Tagung des Europäischen Rates im Dezember 2020 werden geeignete Beschlüsse gefasst. Außerdem sprachen sich die Staats- und Regierungschefs der EU für eine multilaterale Konferenz zum östlichen Mittelmeerraum aus.

Weißrussland: Grünes Licht für Sanktionen

Der Europäische Rat verurteilte die "inakzeptable Gewalt" der weißrussischen Behörden gegen friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten, die Einschüchterungen sowie willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen nach den Präsidentschaftswahlen, deren Ergebnisse er nicht anerkennt. Laut Bundeskanzler Kurz seien die Wahlen "weder frei noch fair" gewesen. Er sei froh, dass die EU eine einheitliche Linie in der Außenpolitik gefunden habe. "Wir müssen jene, die für Wahlfälschungen, willkürliche Verhaftungen und Gewalt gegen friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten verantwortlich sind, zur Rechenschaft ziehen."

Die Staats- und Regierungschefs der EU forderten die weißrussischen Behörden auf, Gewalt und Unterdrückung zu beenden, alle Inhaftierten und politischen Gefangenen freizulassen, die Medienfreiheit und die Zivilgesellschaft zu respektieren und einen integrativen nationalen Dialog aufzunehmen. Sie waren sich einig, dass restriktive Maßnahmen verhängt werden sollten, und forderten den Rat auf, den Beschluss unverzüglich anzunehmen, was dieser bereits am 2. Oktober 2020 tat. Der Europäische Rat ermutigte die Europäische Kommission außerdem, einen Plan zur wirtschaftlichen Unterstützung des demokratischen Weißrusslands auszuarbeiten.

EU-China: Verhandlungen zu Investitionsabkommen bis Ende 2020 abschließen

Nachdem am 22. Juni 2020 der EU-China-Gipfel und am 22. September 2020 das Treffen mit Präsident Xi stattgefunden hatte – beide Treffen Covid-19-bedingt per Videokonferenz – erörterte der Europäische Rat die Beziehungen zwischen der EU und China. Die Staats- und Regierungschefs erinnerten an das Ziel, die Verhandlungen über ein ehrgeiziges umfassendes Investitionsabkommen zwischen der EU und China bis Ende 2020 abzuschließen, sowie an den Wunsch an China, mehr Verantwortung bei der Bewältigung globaler Herausforderungen zu übernehmen, insbesondere im Hinblick auf den Klimaschutz. Sie begrüßten die Erklärung von Präsident Xi, dass China vor 2060 eine CO2-Neutralität anstreben werde.

Der Europäische Rat betonte allerdings auch seine ernsten Bedenken hinsichtlich der Menschenrechtssituation in China, einschließlich der Entwicklungen in Hongkong und der Behandlung von Angehörigen von Minderheiten. Die Grundwerte und Wertvorstellungen sollten "auch in China in Zukunft mehr und mehr geachtet werden", so der österreichische Bundeskanzler. "Die Pandemie hat aufgezeigt, wie wichtig die internationale Kooperation ist und wie sehr wir uns alle wechselseitig brauchen. Im Dialog miteinander ist es aber auch notwendig, die eigenen Interessen und Haltungen klar zu vertreten", so Bundeskanzler Kurz.

Bundeskanzler Sebastian Kurz bei Rede

Der Bergkarabach Konflikt: Sofortiges Ende der Gefechte gefordert

Der Europäische Rat forderte das "sofortige Ende der Gefechte" um die Region Bergkarabach und rief die Konfliktparteien Armenien und Aserbaidschan dazu auf, sich erneut für einen dauerhaften Waffenstillstand und die friedliche Beilegung des Konflikts einzusetzen. Er brachte seine Unterstützung für die Co-Vorsitzenden der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Minsk-Gruppe zum Ausdruck und forderte den Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, auf, die Möglichkeit einer weiteren EU-Unterstützung für den Vergleichsprozess zu prüfen. Ausländische Mächte sollten sich zudem aus dem Konflikt heraushalten.

Mutmaßliche Vergiftung von Alexei Nawalny: Forderung nach lückenloser Aufklärung

Die EU Staats- und -Regierungschefs verurteilten das mutmaßliche Attentat auf den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny mit dem militärischen chemischen Nervengift der "Novichok"-Gruppe. Sie forderten die Behörden der Russischen Föderation auf, uneingeschränkt mit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zusammenzuarbeiten, um eine unparteiische internationale Untersuchung zu gewährleisten und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Der Europäische Rat wird bei seiner nächsten Tagung am 15. und 16. Oktober 2020 auf die Angelegenheit zurückkommen.

Bundeskanzler Sebastian Kurz forderte eine lückenlose Untersuchung der Vorgänge: "Ich bin der festen Überzeugung, dass es notwendig ist, diesen Anschlag vollständig aufzuklären. Wir sind dankbar für die Informationen, die wir vonseiten der deutschen Behörden erhalten haben. Ich glaube, dass es richtig ist, dieses Thema jetzt auf europäischer Ebene zu besprechen und gegebenenfalls darauf zu reagieren."

Covid-19: Enge Koordinierung in punkto Reisen, Reisewarnungen und Impfstoff-Entwicklung vereinbart

Der Europäische Rat verlangte vom Rat und der Kommission, die Gesamtkoordinierungsbemühungen weiter zu verstärken und an der Entwicklung und Verteilung eines Impfstoffs auf EU-Ebene zu arbeiten. Auch wenn die Pandemie nicht auf der Tagesordnung gestanden sei, hätten Österreich und einige weitere Mitgliedstaaten die Debatte angeregt. Daher habe man sich intensiv dazu ausgetauscht, informierte Bundeskanzler Kurz bei einem Briefing. "Es braucht eine enge Koordinierung in Europa. In einigen Bereichen sind die Mitgliedstaaten selbst gefordert, aber es gibt auch Bereiche, bei denen eine europäische Abstimmung wichtig ist, etwa was den Umgang und die Regelungen bei Reisen und Reisewarnungen betrifft."

Positiv hervorzuheben sei, dass es in der EU eine gute Zusammenarbeit bei der Beschaffung und Erforschung eines Impfstoffes gebe. Bis dahin werde man aber einen herausfordernden Herbst und Winter erleben. Österreich wolle mit den gesetzten Maßnahmen jedoch einen zweiten Lockdown verhindern

Binnenmarkt: Weitere Stärkung der vollen Funktionsfähigkeit notwendig

Europäische Union

Der Europäische Rat möchte so bald wie möglich zu einem voll funktionsfähigen Binnenmarkt zurückkehren und forderte folgende Maßnahmen:

  • eine strikte Umsetzung und Durchsetzung der Binnenmarktregeln,
  • die Beseitigung ungerechtfertigter Hindernisse, insbesondere im Bereich der Dienstleistungen,
  • die Aktualisierung des europäischen Wettbewerbsrahmens,
  • die Gestaltung eines neuen Systems für die globale wirtschaftspolitische Steuerung,
  • Investitionen in Bildung, Ausbildung und den effektiven Einsatz von Fähigkeiten.

Zentral dabei ist eine "strategische Autonomie" bei der Wirtschaftspolitik. Ein "Schlüsselziel der Union" stellt eine stärkere wirtschaftliche Unabhängigkeit von Drittstaaten dar. Gefordert wird auch eine "ehrgeizige europäische Industriepolitik" etwa bei der Batterieproduktion oder der Mikroelektronik.

Industriepolitik: Reform des EU-Wettbewerbsrechts notwendig

Die Staats- und -Regierungschefs der EU forderten die Kommission auf, strategische Abhängigkeiten zu ermitteln, insbesondere in den empfindlichsten industriellen Ökosystemen wie dem Gesundheitssektor. Sie beauftragten die Kommission auch, Maßnahmen zur Verringerung dieser Abhängigkeiten vorzuschlagen.
Der Europäische Rat möchte die Wettbewerbsfähigkeit und Autonomie der EU-Industrie weltweit erhöhen und schlägt Folgendes vor:

  • gleiche Wettbewerbsbedingungen und ein regulatorisches Umfeld sowie Rahmenbedingungen für staatliche Beihilfen, die für Innovation förderlich sind,
  • die Entwicklung neuer industrieller Allianzen,
  • eine Aufstockung der Unterstützung für bereits bestehende bedeutende Projekte von gemeinsamem europäischem Interesse sowie für die Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Entwicklung neuer Projekte,
  • die Entwicklung der Autonomie der EU im Weltraumsektor und eine stärker integrierte industrielle Verteidigungsbasis.

Bundeskanzler Sebastian Kurz tritt für eine Reform des EU-Wettbewerbsrechts ein: "Damit die Europäische Union im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig bleiben kann, braucht es eine dringende Reform des Wettbewerbsrechts. Nur so können wir uns gegen China und die USA weiterhin behaupten und unseren Unternehmen eine Erholung von der Covid-19-Krise ermöglichen. Wir sind der festen Überzeugung, dass der Recovery Fund von 750 Milliarden Euro ein wichtiges Tool sein kann, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau der EU zu unterstützen. Es kommt jedoch darauf an, wohin das Geld fließt und wofür es investiert wird. Das muss im Bereich der Ökologisierung, Digitalisierung und Zukunftsprojekte erfolgen. Wir werden weiter dafür eintreten, dass es eine Kontrolle gibt und die Gelder richtig und zweckmäßig verwendet werden", erklärte der österreichische Regierungschef. "Wir müssen aber auch an den Strukturen der EU arbeiten, wenn wir wettbewerbsfähig sein wollen." Das betreffe etwa das Wettbewerbs- sowie das Beihilfenrecht, welche aus österreichischer Sicht überarbeitet werden müssen.

Digitalisierung: Mittel des Wiederaufbaufonds nach Covid-19 für den digitalen Wandel einsetzen

Die Staats- und Regierungschefs der EU begrüßen den Vorschlag der Kommission für ein Gesetz über digitale Dienste, welcher bis Ende 2020 vorliegen soll. Sie forderten die Kommission außerdem auf, bis März 2021 einen umfassenden digitalen Kompass vorzulegen, in dem die konkreten digitalen Ambitionen der EU bis 2030 dargelegt sind.

Die EU-27 waren sich ebenfalls darüber einig, dass mindestens 20 Prozent der Mittel im Rahmen des Wiederaufbaufonds für den digitalen Wandel bereitgestellt werden sollen, auch für Klein- und Mittlere Unternehmen (KMU). Zusammen mit den Beträgen aus dem langfristigen EU-Haushalt sollen diese Mittel dazu beitragen, die Entwicklung und Bereitstellung sowie die Verbesserung unterschiedlicher digitaler Technologien umzusetzen.

Die Staats- und Regierungschefs der EU begrüßten die europäische Datenstrategie und die Schaffung gemeinsamer europäischer Datenräume in strategischen Sektoren. Sie forderten die Kommission auf, dem "Raum für Gesundheitsdaten", der bis Ende 2021 eingerichtet werden soll, Vorrang einzuräumen. Der Europäische Rat betonte auch die Notwendigkeit, sichere europäische Cloud-Dienste einzurichten, um sicherzustellen, dass europäische Daten, in Übereinstimmung mit europäischen Regeln und Standards in Europa gespeichert und verarbeitet werden können. Der Europäische Rat ersuchte die EU-Mitgliedstaaten außerdem, die am 29. Januar 2020 verabschiedete 5G-Toolbox für Cybersicherheit in vollem Umfang zu nutzen und der Kommission ihre nationalen Pläne für die Einführung von 5G bis Ende 2020 vorzulegen.

Die Staats- und Regierungschefs der EU begrüßten die Entwicklung eines EU-weiten Rahmens für die sichere öffentliche elektronische Identifizierung (e-ID), der den Menschen die Kontrolle über ihre Online-Identität und -Daten ermöglichen und den Zugang zu öffentlichen, privaten und grenzüberschreitenden digitalen Diensten erleichtern soll. Sie beauftragten die Kommission, bis Mitte 2021 einen Vorschlag für eine Initiative zur europäischen digitalen Identifizierung vorzulegen.

Ausblick: Nächste Tagung des Europäischen Rates am 15. und 16. Oktober 2020

Beim nächsten EU-Gipfel am 15. und 16. Oktober 2020 stehen nach aktuellem Stand die Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU, der Klimawandel und die Außenbeziehungen zwischen EU und Afrika sowie Russland auf der Agenda.

Der Europäische Rat wird im März 2021 auf die Themen Binnenmarkt, Industriepolitik und digitale Transformation zurückkommen, einschließlich einer Bewertung der Situation im Bereich der digitalen Besteuerung.

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